White is a Metaphor for PowerFilmgespräch: „I am not your Negro“

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Alle Fotos: © Salzgeber

Die „Oscars so white“-Kampagne von 2016 hatte in diesem Jahr eine große Wirkung auf die Nominierungen und die Preisvergabe. Bei den Dokumentarfilmen waren unter anderem der spätere Gewinner Ezra Edelman für O.J.: Made in America, Ava DuVernay mit der Netflix-Doku 13th, die von der Masseninhaftierung der schwarzen Bevölkerung in den USA erzählt, und der in Haiti geborene Regisseur Raoul Peck mit I am not your Negro, für den er Samuel L. Jackson als Sprecher gewinnen konnte, nominiert. I am not your Negro handelt von dem afroamerikanischen, homosexuellen Schriftsteller James Baldwin und dessen Trauer über die Ermordung der Bürgerrechtler Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King. Ein dreißigseitiges, nie fertig gestelltes Manuskript Baldwins diente als Ausgangspunkt für den Film. Tim Schenkl und Alexis Waltz sprachen über ihn.

Tim Schenkl: I am not your Negro ist kein typisch biografischer Dokumentarfilm. Als Zuschauer lernt man zwar viel über das Leben und das Werk von James Baldwin, für mich hat der Film aber vor allem agitatorische Züge.

Alexis Waltz: Es ist kein Porträtfilm, weil Raoul Peck Baldwins nie fertig gestelltes Memorial verfilmt. In diesem berichtet Baldwin, wie er von dem Tod der drei großen schwarzen Bürgerrechtler erfahren hat und von seiner Beziehung zu ihnen. Er war mit allen dreien eng befreundet. Ihre Ermordung habe das Scheitern der afroamerikanischen Emanzipationsbewegung angekündigt. Insofern hat der Film für mich weniger einen agitatorischen, mehr einen melancholischen Ton. Baldwin versucht zu verstehen, warum das Verhältnis von schwarzen und weißen Amerikanern so unversöhnlich ist.

Tim: Natürlich ist der Film geprägt von einer sehr melancholischen, fast schon hoffnungslosen Stimmung. Durch den starken Einsatz von Baldwins eigenen Worten, die von Samuel L. Jackson geradezu performt werden, bekommt er für mich jedoch auch etwas sehr Kämpferisches. Das wird unterstützt durch das Doku-Material von Baldwins öffentlichen Auftritten, bei denen er sich vehement gegen den institutionell bedingten Rassismus in Amerika einsetzt.

Alexis: Wir erleben die öffentliche Debatte über den Emanzipationskampf der Schwarzen, an dem Baldwin sich intensiv beteiligt hat. Während Martin Luther King vom christlichen Glauben geprägt und Malcolm X eine Kämpfernatur ist, erscheint Baldwin durch und durch als Intellektueller. Mit seiner schmächtigen Figur und seiner agilen Mimik legt er eine außergewöhnliche Wachheit und Eloquenz an den Tag.

Tim: Baldwin hatte in den 1950ern lange in Europa gelebt und war dann eher widerwillig in die USA zurückgekehrt, weil er das Gefühl hatte, einen eigenen Beitrag zum Kampf der schwarzen Bevölkerung leisten zu müssen. An seinen öffentlichen Auftritten hat mich besonders beeindruckt, wie er schonungslose Systemkritik mit dem Aufruf zur Eigenverantwortlichkeit verbindet.

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Alexis: Er hatte das Land sehr entschieden hinter sich gelassen. Als junger Mann war er Teil der Pariser Boheme, später ließ er sich in einem Dorf in der Provence nieder. Harry Belafonte, Sidney Poitier, Nina Simone, Josephine Baker, Miles Davis und Ray Charles gehörten zu seinen Freunden, die ihn regelmäßig dort besuchten. Sein Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung lag neben seinen Texten darin, dass er ein öffentlicher Intellektueller war, der z.B. in der Dick-Cavett-Show dem weißen Publikum äußerst nachvollziehbar die afroamerikanische Erfahrung vermittelte. Seine Auftritte im Fernsehen sind faszinierend: Ihm gelang es, die unfassbare Gewalt, die die Afroamerikaner seit 400 Jahren erleiden, offen zu benennen, aber dennoch mit seinem Humor Unterhaltungsformate zu bedienen.

Tim: Seine TV-Auftritte erinnern mich sehr an die der New Yorker Intellektuellen Fran Lebowitz, die selbst stark von Baldwin beeinflusst wurde. Martin Scorsese hat über sie 2010 den tollen Film Public Speaking gedreht, in dem das Fernsehshow-Material mit Baldwin aus I am not your Negro auch schon eine wichtige Rolle spielte.
Baldwin spricht davon, während seiner Zeit in Europa die USA in keiner Weise vermisst zu haben. Trotzdem versteht er sich ganz klar als Amerikaner und nicht etwa als Weltbürger. Dabei nimmt er auch keine Rücksicht darauf, dass ihn viele Weiße nicht als Landsmann akzeptieren wollen. Diesen sagt er ganz offen ins Gesicht: Ob es euch passt oder nicht, wir Schwarzen sind ein Teil der amerikanischen Geschichte, und je eher ihr das akzeptiert, desto besser.

Alexis: Die weißen Farmer haben die Schwarzen in die USA entführen lassen, um Baumwolle zu pflücken. Wie sieht die Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen aus, nachdem die Weißen die Schwarzen freigeben mussten? Die Schwarzen fürchten, dahingemordet zu werden, weil sie jetzt überflüssig sind. Die Weißen fürchten die Rache der Schwarzen. Aber die Schwarzen wollen sich nicht rächen, sie wollen in Freiheit unabhängig von den Weißen leben.

Die Weißen können die Schwarzen aber nicht als Teil der amerikanischen Gesellschaft akzeptieren, weil deren Schwarz-sein auf die Sklaverei verweist und die moralische Autorität der Weißen so untergräbt.

Blinder Fleck

Tim: In den Schriften Baldwins und in I am not your Negro geht es viel um Sichtbarkeit. In der Ghettoisierung der schwarzen Bevölkerung hat Baldwin eines der größten Probleme der USA und letztendlich den Hauptgrund für den Rassismus ausgemacht. Er wiederholt im Laufe des Films immer wieder, dass die Weißen für die Schwarzen zwar sichtbar seien, andersrum aber nicht. Raoul Peck verdeutlicht dies durch viele Beispiele aus der Filmgeschichte, in denen schwarze Darsteller nur am Rand oder halt überhaupt nicht vorkommen.

Alexis: Wie stellt sich Amerika im Kino und Fernsehen dar, und wie sieht die Realität aus? Baldwin erzählt, wie er als Kind einen Hollywood-Film gesehen hat, in dem Joan Crawford leicht bekleidet einen lasziven Tanz aufführt. Er hat sie gar nicht als dezidiert weiß wahrgenommen. Später habe er John Wayne bewundert und an seiner Seite gegen die Indianer gefiebert. Dann kam der entscheidende biographische Moment, in dem er begriff, dass er eigentlich nicht neben John Wayne steht, sondern auf der Seite der Indianer.

Tim: Baldwins Theorien und Beobachtungen erscheinen weiterhin absolut relevant. Peck betont dies, indem er Baldwins Worte unter anderem mit Aufnahmen von Trayvon Martin sowie von aktuellen Opfern von Polizeigewalt bebildert. Baldwin kritisiert in dem Film außerdem wieder und wieder den American Sense of Reality, auch dies erscheint vor dem Hintergrund der Trump-Präsidentschaft mehr als aktuell.

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Alexis: Damals war es für Weiße noch möglich, sich offen rassistisch zu äußern. Das geht heute nicht mehr so einfach. Gerade musste sich Bill O´Reilly, ein konservativer Kommentator bei Fox News, der als einer der einflussreichsten Journalisten der USA gilt, für einen rassistischen Kommentar über eine Senatorin entschuldigen. Für europäische Beobachter scheint es überdeutlich, dass es sich bei dem Hass der Republikaner auf Obamas Politik, der nicht mit dem auf Bill Clinton oder andere demokratische Präsidenten vergleichbar ist, um einen Ersatz für explizit rassistische Äußerungen handelt. Obamacare ist Kommunismus und wird zum Untergang der USA führen. Dabei ist das Modell von einem republikanischen Think Tank entwickelt worden. Die konservativen Amerikaner blenden häufig komplett aus, dass Obama kaum Politik gemacht hat, die nicht auch die eines konservativen Präsidenten hätte sein können. Das große Idol der Republikaner, Ronald Reagan, hat sich für den Erhalt der staatlichen Rentenversicherung und Alterskrankenversicherung und für den Umweltschutz eingesetzt. Baldwin macht da nicht weniger als eine Kulturtheorie des weißen Amerikas zu entwickeln.

Tim: Baldwin wirft den amerikanischen Weißen ja interessanter Weise nicht generell vor, rassistisch zu sein, so wie es teilweise Malcom X und die Black-Panther-Bewegung gemacht haben, sondern bemängelt vor allem die große moralische Apathie.

Die Ungleichbehandlung der US-amerikanischen Schwarzen, deren Vorfahren als Sklaven in Ketten in die USA geholt wurden, scheint vielen weißen Amerikanern bis heute schlichtweg egal zu sein.

Alexis: Der Rassismus entsteht in der Psyche des Rassisten, und zu dieser weißen Psyche hat Baldwin eine spannende These: Für Baldwin gibt es bei den weißen Amerikanern tendenziell eine Spaltung zwischen ihrer privaten und ihrer öffentlichen Person. In der Sucht nach Konsum kommt eine Flucht vor dem eigenen Inneren, vor den eigenen Gefühlen, insbesondere vor der Sexualität zum Ausdruck. Der idealisierte Anteil wird in den Konsumwelten und dem Bild der makellosen Kleinfamilie sichtbar. „We are cruely trapped between what we like to be and what we actually are“, sagt Baldwin.

Tim: Am meisten erschüttert an I am not your Negro hat mich, wie es Baldwin und Peck gelingt, die alltäglichen Ängste der Afroamerikaner nachvollziehbar zu machen. Baldwin geht immer wieder darauf ein, was für eine Belastung es darstellt, von seinen Mitbürgern grundlos gehasst zu werden, und was es bedeutet, bei jeder Polizeikontrolle damit rechnen zu müssen, grundlos erschossen zu werden.

Alexis: Die Schwarzen repräsentieren Widersprüche, die die Weißen in ihrer Psyche nicht ertragen können. Insofern gibt es rassistische Klischee, wie das des triebhaften, gewalttätigen Schwarzen und seiner ungezügelten Sexualität. Die mediale Repräsentation muss diese Angstphantasie auflösen. In Filmen muss gezeigt werden, wie harmlos die Schwarzen sind. Das macht Raoul Peck mit Hilfe mehrerer Filmszenen deutlich: In The Defiant Ones hilft Sidney Poitier Tony Curtis, obwohl Tony Curtis Rassist ist. Jedoch dürfen die Schwarzen keine Sexualität haben. In Guess who is coming to dinner spielt Poitier mit einer weißen Blume, anstatt Katharine Houghton zu küssen. Abstruser geht es kaum. Ein Gegenbeispiel findet Baldwin aber auch: in In the Heat of the Night gibt es eine sehr romantisch inszenierte, schwule Liebeserklärung an Sidney Portier auf einem Bahnsteig vom stiernackigen Rod Steiger.

Tim: I am not your Negro erscheint in vielerlei Hinsicht sehr pessimistisch, besonders wenn der Film zeigt, wie wenig sich die Black-Experience der 1960er von der heutigen unterscheidet. Mal ganz abgesehen davon, dass ein Vorwurf an die Trump-Administration ja lautet, mit ihrem Slogan „Make America great again“ den Geist der USA der 1950er wieder heraufbeschwören zu wollen.
Trotzdem habe ich in letzter Zeit dann auch immer mal wieder gedacht, ob durch die Obama-Zeit, die man natürlich sehr kritisch sehen muss, nicht doch zumindest ein kleines gesellschaftliches Umdenken stattgefunden hat. Baldwin weist ja immer wieder darauf hin, wie wichtig es ist, als junger Schwarzer gesellschaftlich akzeptierte Identifikationsfiguren zu haben. Ich will nicht zu naiv klingen, aber gerade in dieser Hinsicht scheint sich momentan doch einiges zu ändern, wenn man sich beispielsweise die Casting-Politik der Star-Wars-Filme, TV-Serien wie Atlanta oder den Oscar-Gewinner Moonlight anschaut.

Alexis: Das stimmt. Das schwarze Amerika wird immer stärker und vor allem auch ambivalenter repräsentiert. Mit dem durch Baldwin geschärften Auge muss man allerdings genau hinschauen, wie diese Repräsentationen aussehen. An Moonlight etwa ist interessant, dass dort dem schwarzen, schwulen Chiron nicht zugestanden wird, seine Sexualität auszuleben. Für Baldwin ist dieses Bedürfnis nach Reinheit und Unschuld eher Sehnsucht und eine Repräsentationsstrategie des weißen Amerikas. In dieser Angst vor der Messiness des menschlichen Lebens liegt der problematische Wunsch, die Wirklichkeit zu unterdrücken. Baldwins Relevanz für die Gegenwart liegt in der Lektion, dass kein Weg an der Auseinandersetzung mit der Realität und der Geschichte vorbei führt. Dies gilt auch für die sogenannten „Social Justice Warriors“, insofern sie glauben, eine widerspruchsfreie, moralische Autorität erlangen zu können, indem sie Realität und Geschichte ausschließen. Viel stärker trifft Baldwins Analyse aber die neue Generation von Konservativen, die mit ihren alternative facts die Beziehung zur Realität vollständig aufgegeben haben. Damit verschließen sie sich der Möglichkeit jeglicher Art von Veränderung. Dazu erklärt Baldwin im Film: „You cannot lynch me and keep me in ghettos without becoming something monstrous yourselves. And furthermore, you give me a terrifying advantage: you never had to look at me; I had to look at you. I know more about you than you know about me. Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced.“

I am not your Negro
USA/Frankreich/Belgien/Schweiz
Regie: Raoul Peck
Buch: James Baldwin
Archiv Recherche: Marie-Hélène Barbéris, Nolwenn Gouault
Sprecher Samuel L. Jackson
Schnitt: Alexandra Strauss
Kamera: Henry Adebonojo, Bill Ross, Turner Ross
Laufzeit: 93 min
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