Filmgespräch: „Der traumhafte Weg“, „Personal Shopper“ und „Certain Women“Drei Highlights des Berliner „Around the World in 14 Films“-Festivals

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Kristen Stewart in Personal Shopper / © Carole Bethuel

Ein Festival mit Tradition: Die Macher von „Around the World in 14 Films“ stellen am Ende des Jahres eine Reihe von Filmen vor, die auf den großen, internationalen Filmfestivals von Cannes bis Busan Aufsehen erregten. Der Premieren- und Preisdruck ist dann weg und im Cinestar in der Kulturbrauerei können ganz entspannt ambitionierte, künstlerische Filme geschaut werden, die in Deutschland sonst teilweise überhaupt nicht zu sehen sind. Die drei Arbeiten, die euch Alexis Waltz und Tim Schenkl in ihrem Filmgespräch vorstellen, werden jedoch 2017 ganz offiziell in den deutschen Kinos anlaufen. Freut euch also auf zwei spannende neue Werke mit der großartigen Kristen Stewart sowie auf Angela Schanelecs Der traumhafte Weg, einem weiteren Beweis dafür, dass momentan die interessantesten deutschen Filme von Regisseurinnen gedreht werden.

Alexis: Der traumhafte Weg von Angela Schanelec, Certain Women von Kelly Reichardt und Personal Shopper von Olivier Assayas sind Filme nachhaltig etablierter RegisseurInnen mit mehr oder weniger großen Namen im Cast: Maren Eggert bei Schanelec, Michelle Williams, Laura Dern und Kristen Stewart bei Reichardt und ebenfalls Kristen Stewart zusammen mit Lars Eidinger und Nora von Waldstätten bei Assayas. Dennoch erschließen sich diese Filme nicht so unmittelbar, wie man es bei diesen Namen und den soliden bis hohen Budgets vielleicht erwarten würde.

Tim: Das gilt insbesondere für Der traumhafte Weg. An dem Film irritiert vor allem, dass er in drei verschiedenen Zeitebenen spielt, diese jedoch nicht eindeutig angezeigt werden. Die Schauspieler tragen darüber hinaus immer die gleichen Kostüme und weisen kaum Alterserscheinungen auf, obwohl teilweise über 30 Jahre zwischen den einzelnen Episoden liegen.

Alexis: Personal Shopper verbindet ein in einem realistischen Ton erzähltes Twentysomething-Generationenporträt und einen Blick hinter die Kulissen der Celebrity Culture mit einer Geistergeschichte. Certain Woman besteht aus drei verschiedenen Episoden, deren Zusammenhang kaum erzählerischer, sondern thematischer Natur ist: Es geht um mehr oder weniger tragische Frauenschicksale. Aber am nachhaltigsten irritiert tatsächlich Der traumhafte Weg. Angela Schanelec ist Veteran-Director der Berliner Schule und hat wahrscheinlich noch mehr als ihre Mitstreiter dieser cineastischen Bewegung das künstlerische Programm eines nüchternen, schweigsamen, melancholischen Kinos ausformuliert.

Tim: Man könnte sogar behaupten, dass sie die einzige Vertreterin der Berliner Schule ist, die sich weiterhin mehr oder weniger strikt an das ästhetische Repertoire hält, das sie gemeinsam mit Regisseuren wie Christian Petzold und Thomas Arslan entwickelt hat.

Alexis: Petzold und Arslan haben sich einem Publikum geöffnet, für das die Seherfahrung in jedem Moment unmissverständlich in der Geschichte verwurzelt sein muss. Schanelec bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung. Sie entfernt sich vom Realismus ihrer früheren Filme. Wie du gesagt hast, tragen die Schauspieler über 30 Jahre hinweg dasselbe Kostüm und altern auch nur geringfügig. Dieser Abschied von einer realistischen Erzählweise, der das Arthouse-Kino in den letzten Jahren fast vollständig beherrscht hat, ist für mich eine starke, faszinierende Geste.

Tim: Ja. Als Kennzeichen des filmischen Realismus können in Der traumhafte Weg bestenfalls noch die Beleuchtung und die Drehorte genannt werden. Ansonsten wirkt der Film wahnsinnig artifiziell, aber auf eine gute Art und Weise. Schanelecs Arbeiten hatten ja schon immer eine große Nähe zum Werk von Robert Bresson, die auch diesmal stark hervortritt. Ich musste auch immer wieder an Sergej Eisenstein denken. Schanelecs Montage wahrt zwar zumeist Blickachsen und in gewisser Weise auch eine zeitliche Chronologie, ist aber häufig sehr affektiv. Außerdem arbeitet sie viel mit eindrucksvollen und sehr präzisen Großaufnahmen.

Alexis: Ich dachte gerade bei den Porträts immer wieder an Dziga Vertov.

Schanelec erzählt in Auslassungen, und das ist noch ein Berliner-Schule-Standard. Aber bei ihr wird soviel ausgelassen, dass nur noch eindringliche, symbolhafte Einzelbilder übrig bleiben.

Der naturalisierende Effekt, der die Existenzbedingung des gesamten deutschen Kinos auch jenseits der Berliner Schule zu sein scheint, verschwindet. In einzelnen Momenten glaubte ich, einen Film von Bela Tarr zu sehen.

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Miriam Jakob und Thorbjörn Björnsson / © Filmgalerie 451

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Maren Eggert / © Filmgalerie 451

Tim: Ich fand auch, dass sie es mit den Auslassungen in diesem Film ein wenig übertreibt. Liest man sich das Presseheft durch, könnte man meinen, es handle sich um einen konventionellen Erzählfilm. Teilweise hatte ich jedoch große Probleme, die Bilder auf der Leinwand in einen logischen Zusammenhang zu bringen.

Alexis: Die erste Viertelstunde des Films ist sie konsistent: Sie erzählt das Ende der Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren Theres (Miriam Jakob) und Kenneth (Thorbjörn Björnsson) in einem Set Piece auf einem Parkplatz in einem griechischen Touristenort. Die beiden singen und spielen Gitarre, um sich ihren Urlaub zu verdienen. Touristenbusse fahren vor. Geld landet in der Mütze des Mannes. Junge Menschen werben für die Europawahl 1984. Ein Polizeiwagen rollt über dem Parkplatz. Kenneth telefoniert, Theres beobachtet ihn dabei. Als Reaktion auf das Telefongespräch sinkt Kenneth in sich zusammen, der Polizist fängt ihn auf, die Apparatschiks schauen betroffen. An Theres’ Gesicht ist eine Ahnung davon abzulesen, was dieser Schockmoment für die Beziehung der beiden bedeuten könnte. Diese unwahrscheinliche Begegnung von Einzelpersonen und Gruppen hat die Größe und Komplexität einer Szene in einem Brian-de-Palma-Film, ist aber doch aus ganz einfachen Bildern zusammengesetzt.

Tim: Ja, der Anfang ist wirklich großartig und absolut virtuos montiert. Aus dem sonnigen Griechenland geht es dann zurück in die deutsche Tristesse, und der Film gerät ein wenig ins Stocken.

Deutsche Tristesse

Alexis: Die folgenden Sequenzen entwickeln weder eine solche Dichte noch eine solche Klarheit. Oft versteht man auch schlichtweg nicht, was erzählt werden soll. Dass die Hauptfigur Theres ein Kind hat, das bei ihrer Mutter aufwächst, habe ich erst der Presseinfo des Verleihs entnommen.

Tim: Beim Casting des Films setzt Schanelec auf eine Mischung aus Laien und ausgebildeten Schauspielern. Das geht größtenteils gut auf. Thorbjörn Björnsson, der die Figur des Kenneth spielt, konnte mich jedoch nicht wirklich überzeugen.

Alexis: Mir hat er gefallen. Der Musiker und Schauspieler bereichert das weltverlorene, melancholische Schanelec-Gefühl um eine tiefe Zerstörtheit. Aber du hast insofern recht, dass ihr besonderes Interesse den Frauenfiguren und den Schauspielerinnen gilt. Da hat Schanelec ein extremes Gespür für bestimmte, spröde Persönlichkeiten, in denen Härte mit Zerbrechlichkeit zusammenkommt. Marseille-Star Maren Eggert taucht wieder auf, die Hauptdarstellerin Miriam Jakob ist eine Entdeckung, die Filmkritikerin Esther Buss hat einen starken Auftritt als Busfahrerin.

Tim: Maren Eggert spielt die alkoholkranke Schauspielerin Ariane, die sich von ihrem Mann David (Phil Hayes), einem erfolgreichen Anthropolgen, trennt. Außerdem sind Kinderfiguren ein immer wiederkehrendes Motiv.

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Miriam Jakob / © Filmgalerie 451

Alexis: Ariane taucht unvermittelt auf, als der Film ungefähr in der Mitte plötzlich in die Gegenwart springt. Genau wie Theres im ersten Teil hat sie eine Beziehung zu einem Engländer. Wie im ersten Teil zerbricht diese. Insofern ist sie eine Art Spiegel. Bei den Kindern habe ich in manchen Szenen die Verbindung zum Rest des Films verloren. Am Ende begegnen die Figuren aus dem ersten Teil denen aus dem zweiten. Theres trifft Kenneth wieder, geht aber an ihm vorbei. Auch hier spiegeln sich beide Geschichten. Es geht um die Unmöglichkeit von Liebe. Bei der ersten Episode geht es um die Flüchtigkeit junger Liebe und die Unfähigkeit von Kenneth, sich innerlich von seiner Mutter zu trennen. Die zweite Geschichte ist weniger klar: Bei Ariane scheinen Alkoholismus, der Schauspielberuf und ein allgemeines Desinteresse an Beziehungen der Liebe im Weg zu stehen.

Tim: Interessant fand ich, dass Schanelec relativ offensichtlich zwei politische Kommentare in den Film einbaut. Zu Beginn sieht man Fahnen-schwingende, griechische EU-Gegner und in einer Episode, die im Jahre 1989 spielt, schauen einige Charaktere einen englischen Fernsehbericht, in dem nach Ungarn geflüchtete Ostdeutsche als Refugees bezeichnet werden. So etwas landet doch nicht zufällig in dem Film.

Alexis: Vielleicht ist es auch bloß ein Mittel zur zeitlichen Orientierung. Politische Bezüge gibt es sonst keine. Der Film ist ganz und gar in eine bildungsbürgerliche Welt eingelassen, in der die Menschen Musiker, Schauspieler, Lateinlehrerinnen oder Anthropologen sind. Die Bücherregale in den Altbauwohnungen gehen bis unter die Decke. Es wäre aber falsch, daraus Schanelec einen Strick zu drehen. Es ist eher eine Stärke des Films, dass er die soziale Sphäre, aus der heraus er gemacht ist und in der er spielt, so klar benennt.

Tim: Während der Sichtung habe ich mich auch gefragt: Sind das eigentlich Filme über Deutschland? Ich finde, dass lässt sich nur bedingt so sagen. Es sind vor allem Filme über eine bestimmte Gruppe von Menschen, deren Mitglieder offensichtlich verbindet, dass sie sehr stark am Leben leiden. Innerhalb der der deutschen Filmkritik gibt es ja eine nicht ganz kleine Gruppe, die das Kino der Berliner Schule regelrecht hasst. Die wird dieser Film mit Sicherheit nicht bekehren, oder?

Alexis: Der Film ist keineswegs perfekt und sehr miserabilistisch. Natürlich kann man den Film nicht mögen und aus verschiedenen Perspektiven kritisieren. Er ist z.B. sehr heteronormativ. Aber trotzdem ist Schanelec die einzige deutsche Filmemacherin, die sich vom erzählerischen Imperativ ganz und gar frei macht und jeden formalen Aspekt des Kinos einer selbstreflexiven Betrachtung unterzieht. Schanelec zeigt immer wieder, dass ein Schnitt sich nicht selbstverständlich ergibt, sondern gemacht wird. So de- oder entnaturalisiert sie die Filmsprache. Dieses emanzipatorische Erbe der Hochmoderne wirkt gerade heute, wo viele künstlerische Strategien auf Naturalisierung setzen, sehr befreiend.

Tim: Ich muss auch sagen, dass mir der Film im Großen und Ganzen sehr gut gefallen hat. Zwar gibt es durchaus einige Momente, die man aussitzen muss, diese macht Schanelec für mich jedoch um ein Vielfaches wett, indem sie gemeinsam mit ihrem Kameramann Reinhold Vorschneider Kinobilder schafft, die so einfach wie großartig sind und keinesfalls beliebig, sondern sehr präzise und intelligent.

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Angela Schanelec / © Joachim Gern

Vom Personal Assistant zum Personal Shopper

Alexis: Angela Schanelec steht für ein Autorenkino, bei dem die Autorenschaft nicht nur auf ein Interesse an bestimmten Themen bezogen ist oder auf eine filmische Handschrift. Der traumhafte Weg entwickelt ein radikal eigenes Verständnis der Filmsprache. Oliver Assayas hat nicht einen solchen Anspruch. Personal Shopper strebt keine geschlossene Ästhetik an, gut ist der Film dennoch. Assayas verschmilzt auf elegante Weise das Erbe der Nouvelle Vague mit einer Neugierde auf die angloamerikanische Popkultur zu einer unterhaltsamen, genussvollen Seherfahrung. Dabei hat sich mir der Film nicht so erschlossen wie die erste Zusammenarbeit von Kristen Stewart und Olivier Assayas Clouds of Sils Maria. Clouds ist eine Satire auf die europäische Hochkultur der Gegenwart zwischen Film und Theater, in die die spannende Begegnung eines französischen Altstars (Juliette Binoche) und ihrer US-amerikanischen persönlichen Assistentin (Kristen Stewart) eingelassen ist. Diese Verschmelzung von überhöhter Satire und realistischer Beziehungsgeschichte wird bei Personal Shopper in das Verhältnis von Geistergeschichte bzw. Horrorfilm und Generationenporträt hinter den Kulissen der Celebrity Culture übertragen. Bei Personal Shopper geht der Genre-Mix aber nicht so gut auf: Auf der realistischen Ebene fehlt mir der Beziehungsraum um Kristen Stewart. Sie hat einen netten, aber beliebigen Freund und nette, beliebige Freunde. Sie hasst ihre Arbeitgeberin, die berühmte Schauspielerin Kyra (Nora von Waldstätten), die ein Abziehbild ist. Stewart bewegt sich souverän durch die Showrooms und Werkstätten von Chanel oder Cartier, kuratiert stilsicher die Fashion und kommuniziert respektvoll. Sie ist zwischen Verachtung und Faszination für diese Welt des Glamours und des Luxus hin- und hergerissen, wie das jeder halbwegs normale Mensch wäre. Parallel dazu gibt es die Geistergeschichte: Ihr gerade verstorbener Zwillingsbruder war ein spiritistisches Medium. Da die Geschwister an einer seltenen Herzkrankheit leiden, haben sie ausgemacht, nach dem Tod von einem der beiden noch eine Zeit lang in Kontakt zu bleiben. Maureen (Kristen Stewart) quält diese Beziehung zur Geisterwelt, die sie nicht in den Griff kriegen kann. Was aber den Charakter jenseits dieser allzu verständlichen Ängste antreibt, habe ich nicht begreifen können.

Tim: Klar, der Film ist nicht wirklich kohärent und wirkt in gewisser Weise auch unfertig, was ihn für mich aber gerade interessant macht. Beim Festival von Cannes hat Assayas zwar den Preis für die beste Regie erhalten, wurde vom vor allem aus Filmkritikern und Business-Leuten bestehenden Publikum jedoch ausgebuht, das offensichtlich mit dem starken B-Movie-Charakter des Films seine Probleme hatte.

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Olivier Assayas und Kristen Stewart / © Carole Bethuel

Alexis: Das Buhen kann ich da nicht so verstehen. Es ist ein schöner, souverän gemachter und unterhaltsamer Film. Die Verbindung von einem an der Nouvelle Vague geschulten Blick auf Außenseiter oder Nebenfiguren wie eben Kristin Stewart als Personal Shopper mit ganz und gar unzeitgemäßen, am Stummfilm und am Genrefilm der 1950er und 1960er geschulten Horror Topoi ist nicht unbedingt zwingend, aber doch sehr klar und lesbar.

Wie Assayas erzählt, ist nachvollziehbar. Was er erzählt, wird nicht so ganz verständlich.

Tim: Aus meiner Sicht sind die Buh-Rufe des Publikums in Cannes auch absolut unberechtigt, waren aber wohl erwartbar. Der Film entspricht nicht dem typischen „Qualitäts“-Anspruch, den viele an einen Cannes-Wettbewerbsbeitrag stellen. Er bezieht sich nicht nur auf die B-Movie-Tradition und ist teilweise ziemlich unlogisch, er ist darüber hinaus auch ziemlich sleazy. Die zwei Nacktszenen mit Stewart sind schon arg voyeuristisch und die Masturbationsszene im Bett ihrer Chefin lässt sich auch nur schwer narrativ-funktional erklären.

Alexis: Maureen ist eine ziemlich moralische, respektvolle, von Geistern verfolgte junge Künstlerin. In dieser Nacht taucht sie in die Gefühlswelt von Fashion und Luxus ein: Weiblichkeit, Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Erotik und ein wenig Exhibitionismus gehören da dazu.

Tim: Das mag ja vielleicht gerade noch stimmen, aber bei der Untersuchungsszene, bei der Maureen von einem Arzt abgehört wird, beschlich mich dann doch ein gewisses Unwohlsein. Da konnte man schon das Gefühl bekommen, es ginge in der Szene vor allem darum, Kristen Stewarts nackten Starkörper zu präsentieren.

Alexis: Heutzutage präsentieren sich Starkörper selbst. Über diese Bilder wurde bestimmt viel verhandelt und diskutiert. Wenn Stewart sich so nicht gefallen würde, fände die Zurschaustellung nicht statt. Dramaturgisch ist es geschickt, die Nacktheit schon einmal in einem anderen Kontext zu etablieren, in dem es nicht um Sinnlichkeit, sondern um Verletzlichkeit geht. Zuerst sehen wir Stewarts zarten Körper in einer weißen, klinischen Arztpraxis, später im riesigen, begehbaren Kleiderschrank ihrer Arbeitgeberin. Für ein B-Movie sind solche Schauwerte unverzichtbar: Genauso wie Stewarts Busen werden uns animierte Dämonen und die riesigen Blutlachen des Mordopfers gezeigt.

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Lars Eidinger / © Carole Bethuel

Tim: Über den Thriller-Plot des Films haben wir noch gar nicht gesprochen. Maureen erhält plötzlich mehrere Kurznachrichten auf ihr iPhone. Den Absender kennt sie nicht. Sie ist sich lange nicht sicher, ob es sich um ein Zeichen ihres verstorbenen Bruders aus dem Jenseits handelt oder ob eine unbekannte Person mit ihr spielt. Ich kann mich an keinen Film erinnern, in dem ein abgefilmtes Handy-Display so lange und oft zu sehen ist. Hat das für dich funktioniert?

Alexis: Assayas bricht seine filmgeschichtlichen Leidenschaften sehr konsequent an der Gegenwart. Celebrity Culture und die kulturellen Vorlieben der Millenial-Generation interessieren und faszinieren ihn ebenso wie das Texting. Der Zuschauer versteht schneller als Maureen, wer die Nachrichten versendet. Das ist aber kein Problem.

Tim: Beim „14 Films Festival“ werden die Filme ja immer von einem Paten vorgestellt. Edward Berger (Deutschland 83) sprach in seiner Einführung davon, dass es sich um keinen typischen Assayas-Film handele. Ich finde, das stimmt nicht.

Assayas hatte schon immer ein Faible für B-Movies, auch wenn man dies nicht unbedingt an jedem seiner Filme ablesen kann.

Gerade im Umgang mit Technologie und der starken Präsenz von unterschiedlichen Displays erinnert mich Personal Shopper stark an Demonlover von 2002. Das ist ein sehr multinationaler und multilingualer Assayas-Film, in dem die Charaktere wie Maureen ständig unterwegs sind.

Alexis: Mit einem richtigen US-Star arbeitete Assayas ja zum ersten Mal in seiner schönen Episode von Paris je t’aime. Maggie Gyllenhaal sitzt einsam in ihrem Wohnwagen am Pariser Set einer internationalen Großproduktion und versucht sich etwas zum Kiffen zu beschaffen. Aber das Interesse, sich auf die angloamerikanische Popkultur und deren Sprechweisen auf eine direkte Weise zu beziehen, gibt es bei ihm von Anfang an. Was ist unser Verdikt zu Personal Shopper?

Tim: Nichts für Logik-Freaks und Freunde des „anspruchsvollen“ Films, aber für mich trotzdem eines der rundesten Werke im Katalog des Regisseurs.

Alexis: Für mich ist es ein formal in jeder Hinsicht gelungener Film, der viele interessante Sujets verarbeitet.

Ich habe mich rundum unterhalten gefühlt, und das passiert mir selten im Kino.

Aber Kristen Stewarts Charakter bleibt mir, wie gesagt, fern. Es gibt da ihre Bescheidenheit, die gegen die Lust auf den Luxus ankämpft, die Sehnsucht nach ihrem Bruder und die Angst vor der Geisterwelt. Sie ist von der Gefallsucht ihrer Arbeitgeberin abgestoßen und empathisch gegenüber der früheren Freundin des Bruders. Das sind Gefühle, die die meisten Menschen haben würden, da entsteht für mich kein greifbarer Charakter. Dennoch macht es Spaß, Stewarts Spiel zuzuschauen. Maureens nervöse, schreckhafte Art taucht auch in ziemlich ähnlicher Weise in Certain Women auf. Wie hat sie dir da gefallen?

Tim: Kristen Stewart ist schon super und hat eine wirklich tolle Entwicklung genommen. Genau wie ihr Twilight-Kollege Robert Pattinson, der ebenfalls mit Assayas sowie mit Claire Denis arbeiten wird und einen Film mit James Gray fertiggestellt hat, scheint sie momentan großen Wert auf die Auswahl der Regisseure zu legen, mit denen sie zusammenarbeitet. In Kelly Reichardts Film hat sie im Gegensatz zu Personal Shopper, in dem sie ja fast in jeder Einstellung zu sehen ist, nur eine eher kleine Rolle. Weiß aber auch hier zu überzeugen.

Alexis: Als Episodenfilm erinnert Certain Women an die 60er- und 70er-Jahre. Das zweimalige Abreißen des Erzählflusses stellt eine für heutige Verhältnisse ungewöhnliche Distanz her, die ich aber als interessant und befreiend empfunden habe. Wir erleben kurze Episoden im Leben dreier Frauen. Der Resonanzraum zwischen den Episoden stellt dann eine interessante, gedankliche Ebene her. Laura Dern, Michelle Williams und die junge Lily Gladstone sind Frauen, die sich beruflich in Männerwelten bewegen. Dern ist Anwältin, Williams die Vorgesetzte ihres eigenen Ehemanns und Gladstone kümmert sich auf einer Ranch um einen Pferdegestüt.

Tim: In der ersten Episode sehen wir die Anwältin Laura (Laura Dern), die sich mit einem dickköpfigen Northwesterner (Jarred Harris) herumschlagen muss, der einen ehemaligen Arbeitgeber verklagen will, obwohl er bereits eine Abfindung erhalten hat.

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Laura Dern / © Filmscience

Alexis: Es macht Spaß, den brillanten Mad-Man-Darsteller in einer ganz anderen Rolle zu erleben. Ein Kritiker bemerkte richtig, dass er Laura gleichzeitig als Mutter, als Freundin und als Geliebte behandele. Nur als Anwältin nimmt er sie nicht ernst. Sie beschwert sich darüber, scheint aber diesen perversen Rollenmix doch zu genießen. Gleichzeitig hat sie eine Affäre mit Michelle Williams’ Mann aus der zweiten Episode. Am Schluß begegnet ihr dann auch noch flüchtig Lily Gladstone aus der dritten Geschichte. Wie fandest du diese lose Verbindung der einzelnen Teile?

Tim: Ich habe mich ein wenig darüber gewundert, warum Reichardt die einzelnen Episoden eigentlich mehr oder weniger auserzählt und dann am Ende auf alle drei Charaktere für eine kurz Statusbeschreibung wieder aufnimmt. Das fand ich ein wenig unnötig.

Alexis: Es ist nicht notwendig, es stellt aber eine räumliche Verbindung her. Ich fand die erste Episode am originellsten. Laura hat einen sehr eigenen, ambivalenten Umgang mit Männern und deren auf sie bezogenen Zuschreibungen. Die zweite Geschichte ist etwas stereotyper, aber auch gelungen und spannend: Michelle Williams weiß, was sie will und offenbar auch, wie man es bekommt. Sie verdient das Geld in dieser Familie, in der Macht und Liebe auf unlösbare Art verschmolzen scheinen. Sie buhlt vergeblich um die Aufmerksamkeit und Zuneigung ihrer Teenager-Tochter und scheint sich dabei kaum auf deren Gefühle und die ihres fast ein wenig verängstigten Ehemannes einlassen zu können. Diese emotionale Leerstelle kompensiert sie dadurch, dass sie sich von ihrem Mann ein Haus bauen lässt. Es soll ein besonderes Haus sein. Da hat sie ein Auge auf die antiken Sandsteinblöcke eines abgerissenen Schulhauses geworfen, die ihrem Zuhause Patina geben sollen. Das Problem ist aber, dass die Steine einem alten, leicht dementen Mann gehören. In einer Szene, die an Akwardness kaum zu überbieten ist, luchst sie dem alten Mann die Steine ab. Sie will ihn dafür bezahlen, er schenkt sie ihr aber. Sie kann mit dieser Großzügigkeit nichts anfangen, heimlich nimmt sie das Gespräch auf, um eine Beweis zu haben. Ihr Mann schweigt während der Verhandlung, trotzdem spricht der Alte nur ihn an. Frauen, die es in dieser Welt zu etwas bringen, scheint Reichardt zu sagen, brauchen Dickfelligkeit und Härte, und sie müssen es in Kauf nehmen, nicht ernst genommen zu werden. Statt eine echte Beziehung zu Menschen aufzubauen, definieren sie sich durch Macht. Im Zweifel existiert die Aufnahme. Im Beruf mag das zu funktionieren, im Privatleben kann sie sich nur von ihrer Tochter unterwerfen lassen oder ihren Mann unterwerfen.

Tim: Die drei Episoden habe ich, obwohl sie alle im selben Milieu spielen, als relativ unterschiedlich empfunden. Der erste Teil ist fast schon komödiantisch und erinnert allein schon dadurch, dass Laura Dern mitspielt, ein wenig an Twin Peaks. Den zweiten Teil könnte man als ein Beziehungsdrama titulieren. Die dritte Episode erinnert an einen Liebesfilm. Die von Lily Gladstone gespielte Farmerin verliebt sich in die junge Anwältin Elizabeth (Kristen Stewart), die sich ungeschickterweise dazu verpflichtet hat, in der Kleinstadt Livingston, die vier Autostunden von ihrem Zuhause in Bullings entfernt ist, eine Art Volkshochschulkurs zu geben.

Alexis: Alle Episoden spielen am selben Ort, aber nicht im selben Milieu. Zumindest in der zweiten und dritten Episode geht es um die Spannung von Stadt und Land. Aber du hast recht.

Mich hat es auch überrascht, wie verschieden der Ton der einzelnen Episoden ist. Die erste hat neben dem Humor mit ihren reich ausgestatteten Sets auch einen ethnographischen Touch. Die zweite erinnert in ihrer Verkniffenheit an Maren Ade, die dritte ist ein großformatiges, queeres Liebesdrama, das in die Landschaft und deren Atmosphäre eintaucht und vielleicht ein wenig an den Gus van Sant der 90er erinnert.

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Lily Gladstone / © Filmscience

Männerwelten und lustige Bärchen

Tim: Certain Women ist der Film einer Regisseurin mit drei Hauptdarstellerinnen. Findest du, dass es sich um einen feministischen Film handelt?

Alexis: Ja, schon. Es geht um Frauen, die sich in Männerwelten durchschlagen. Vielleicht könnte man Reichardt als pessimistische oder melancholische Feministin bezeichnen, weil der Emanzipationsgrad ihrer Heldinnen beschränkt ist oder Emanzipation für sie gar kein Thema. Stark, aber doch übertrieben fand ich das Ende der dritten Episode. Die Pferdewirtin fährt vier Stunden durch die Nacht, um der Anwältin Elizabeth eine Liebeserklärung zu machen. Diese reagiert mit einem betroffenen Gesicht und verschwindet. Dabei erinnert sie an einen Cowboy aus den 1950ern, der herausgefunden hat, dass sein bester Freund schwul ist.

Tim: Mir hat besonders gut gefallen, wie selbstverständlich Reichardt damit umgeht, dass ihre Charakteren Frauen sind. Der Film hat nichts Didaktisches. Wir sehen Figuren mit Stärken und Schwächen, dabei ist es völlig egal, dass es sich bei ihnen um Frauen handelt. Reichardt bemüht sich nicht darum, aus den Charakteren Heldinnen zu machen. Man könnte sogar behaupten, dass sie in Episode 2 mehr mit dem seine Frau betrügenden Mann (James Le Gros) als mit dessen Frau Gina (Michelle Williams) sympathisiere.

Alexis: Er ist ein lustiges Bärchen. In seiner Abhängigkeit von Gina, die er auch noch betrügt, ist er aber doch erbärmlich. Ich glaube, dass Reichardts Herz für Gina mit ihrer ganzen Unzufriedenheit und Ungeliebtheit schlägt: Im ersten Bild raucht Gina beim Joggen eine Zigarette. Das sagt so viel wie: Diese Frau ist nicht mit sich im Einklang. In der letzten Einstellung winkt sie dem alten Mann zu, als die Steine eingeladen werden. Sie erhofft sich eine Absolution für das, was sie als Diebstahl empfindet. Er reagiert aber nicht, und sie schaut furchtbar traurig und gekränkt drein.

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Kristen Stewart in Certain Women / © Filmscience

Tim: Ich habe diesen Blick des alten Mannes so interpretiert, dass er sich von der verbissenen Karrierefrau übervorteilt fühlt. Die Steine scheinen für ihn einen sentimentalen Wert zu haben, und Gina entreißt sie ihm. Ihr Ehemann ist empathischer und bestärkt den Alten darin, die Steine nur abzugeben, wenn er dies auch wirklich will. Dafür macht Gina ihm später im Auto Vorwürfe. Auch zu der gemeinsamen Tochter hat Ryan ein besseres Verhältnis als Gina und einen deutlich emotionaleren Zugang.

Alexis: Das stimmt. Aus ihrer Machtposition haben es die Männer natürlich leichter, einen gesundes Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln. Aber versteht der alte Mann überhaupt, dass Gina Karrierefrau ist, dass sie ihm etwas abluchsen will? Sein Leben geht zu Ende, das junge Ehepaar hat noch ein Leben vor sich. Für ihn geht es um das Abschiednehmen, das ist ein innerlicher Prozess. Das Ehepaar baut ein Haus, es braucht die Steine. Er nicht. Diese auf Ressourcen bezogene Denkweise des früheren Bauern kann Gina nicht verstehen, genauso wenig wie sie die Gefühle ihrer Tochter, ihres Mannes und letztlich auch ihre eigenen begreifen kann. Reichardt scheint zu sagen: ob die Männerwelt dich zur Einsamkeit verdammt hat oder du selbst, ist nicht zu entscheiden. Es gibt keinen Ausweg. Auch der Feminimus ist keiner. Ich bin aber da mit meiner Kamera, und gemeinsam halten wir dieses unangenehme bis unerträgliche Dasein aus.

Tim: Ich sehe das etwas anders: Du hast recht, Certain Women ist ein feministischer Film. Hier wird jedoch keine Kämpferpose eingenommen, sondern ganz natürlich mit den Frauenfiguren umgegangen. Sie sind keine unterdrückten Heldinnen, sondern in erster Linie weibliche Wesen mit Ecken und Kanten. Besonders Gina ist kein gegängeltes Systemopfer, das von den Männern unterdrückt wird. Eher im Gegenteil! Reichardt leugnet nicht das patriarchale System, es ist aber in dem Film auch nicht ihr Hauptthema. Sie sagt: Ob es euch passt oder nicht, wir sind genauso wie ihr. Nicht besser, aber halt auch nicht schlechter. Dies geschieht mit einer unangestrengten und selbstbewussten Selbstverständlichkeit, die mir sehr gefallen hat.

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