Fragmente einer GroßstadtSpätis: Berlins unverzichtbare Wunderkammern

Fragmente einer Großstadt Spätis

Sie sind aus Berlin nicht wegzudenken, und doch ist ihre Existenz bedroht. Sie sind Unternehmer, aber auch: die Gesichter einer Straße, Helfer in der Not, Durstlöscher, Seelentröster, Kummerkästen, Stand-up-Comedians, Wächter der Dunkelheit. Und ein bisschen eines der letzten Einhörner des Berliner Freigeistes: Die Späti-Besitzer.

Gerade im neuen Jahr angekommen, findet mein erstes Gespräch, das ich mit einem Fremden führe, am 01.01.2017 mittags vor einem Späti statt. Es ist der Besitzer, der mir ein frohes neues Jahr wünscht und erzählt, er habe die ganze Nacht aufgehabt. „Muss ja“, sagt er. Einmal mehr wusste ich, warum ich mich dieses Silvester verkrochen hatte und um Mitternacht nicht auf Neuköllns Straßen war, als er von einem brennenden Auto auf der Hermannstraße erzählte. Die jungen Leute im Auto hatten sich tatsächlich selbst mit einem polnischen Böller in die Luft gejagt, weil sie zu doof waren, diesen aus dem Fenster zu werfen. Nichts Schlimmes passiert, versicherte er mir fast schon gelangweilt.

Wie er sind viele Späti-Besitzer wohl die Promis ihrer Straße. Alle mit ihren ganz eigenen Spezialitäten und Menscheleien. Da wäre zum Beispiel die edgy Lady aus dem Graefekiez, die mich auf den ersten Blick an die brunette Version von Daniela Katzenberger erinnert, sich dann aber doch als eine Art Lady Bitch Ray entpuppt, wenn sie einen großschnäuzig anhand der Getränkeauswahl versucht, menschlich und sexuell zu durchschauen. Sie weiß, was gut ist. Bio Zisch Matcha zum Beispiel. Prickelnd und mild zugleich. Ihr Bruder habe von der Sorte Litschi mal gekotzt. Oder der junge Best Buddy auf der Hermannstraße, der fast philosophisch von KitKat Chunky schwärmt. „Das ist so aufregend, man weiß nie, welche Seite zuerst kommt, wenn man es öffnet.“

Und natürlich gibt es den wohl allseits bekannten Hasan, der Besitzer der Eck-Oase Flughafen-Ecke-Reuter. Ich muss zugeben, jetzt im Winter fehlt er mir ein bisschen. Er und die geselligen Nächte an den Tischchen vor seinem Laden. Der Name ist ziemlich treffend, sitzt man hier irgendwie befreit aus Raum und Zeit in einem Winkel der Geborgenheit, allzeit versorgt. Wenn der Notstand ausbricht, ist es bei Hasan bestimmt immer noch schön. Er ist wie der erfahrene und fürsorgliche Onkel, der das Beste für einen will und Ratschläge gibt, ohne belehrend zu sein. Samariterhaft kocht er, vor allem am Monatsende, öfter mal eine Suppe für ein paar Nachbarn, denen das Hartz IV nicht reicht. Wenn man ihm so dabei zusieht, wie er liebevoll Runde für Runde an seine meist jungen Gäste serviert und aufmerksam Stühle hinausstellt, wo sie fehlen, hat man das Gefühl, er glaubt an den jugendlichen Geist der Eltern von morgen. Und wenn er von seiner Vergangenheit in Berlins Westen erzählt und von seinen Gefechten mit der Polizei, in denen er für Gerechtigkeit statt Recht und Ordnung einstand, schwappt der nostalgische Idealismus über. Er glaubt fest daran, dass Berlin immer besser wird. Dabei fühlt es sich an, als würde er einem das unsichtbare Zepter im Auftrag des Friedens überreichen, um seinen Kampf fortzuführen.

Mögen die wunderbaren Menschen hinter Berlins unverzichtbaren Wunderkammern aka Spätis noch lange ihren in allen Bereichen lebenserhaltenden Maßnahmen nachgehen können, während sie hoffentlich selbst genug Lebensunterhalt verdienen. Möge das unsichtbare Zepter im Auftrag von Gerechtigkeit die Verfechter von Recht und Ordnung (aka Robert Ruf und dessen Anhänger) friedlich stimmen und der Zukunft von morgen ihren Idealismus lassen.

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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