Doku-Kritik: The Defiant OnesDr. Dre und Jimmy Iovine zwischen Beats und Wahnsinn

The Defiant Ones Lede

Alle Fotos: Netflix

Die HBO-Produktion „The Defiant Ones“ dokumentiert den Werdegang zweier Größen des Musik-Business, deren Laufbahnen unterschiedlicher nicht hätten beginnen können, aber doch seit vielen Jahren eng miteinander verknüpft sind: Dr. Dre und Jimmy Iovine. HipHop, Business, Mord, Totschlag, Persönliches und Apple. Die vierteilige Doku läuft jetzt auf Netflix.

Nach über vier Stunden „The Defiant Ones“ fragt man sich, was hier gerade an einem vorbei gerauscht ist. Doku, Bio-Pic, Selbstbeweihräucherung, Werbefilm, Musikfilm, Business 101, Oral History – Regisseur Allen Hughes rührt fulminant in der erzählerischen Trickkiste, um das Leben und die Geschichte zweier Menschen nachzuerzählen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die die Musik und das Musik-Business jedoch nachhaltig geprägt haben – und das seit langer Zeit auch gemeinsam tun.

Da ist André Young – Dr. Dre – die HipHop-Legende, der in Compton erst sein Ding machte und dann mit N.W.A die Westküste der USA auf die Rap-Landkarte brachte, Death Row gründete, „The Chronic“ aufnahm, Snoop scoutete, Eminem produzierte, Kendrick unterstützte. Und da ist Jimmy Iovine, der in New York nach der Schule nichts mit seinem Leben anzufangen wusste, im Tonstudio jobbte und plötzlich für John Lennon hinter dem Mischpult saß, „Born To Run“ von Bruce Springsteen mischte und den davon überzeugte, seinen Song „Because The Night“ doch an Patti Smith abzutreten, deren Alben er nebenher produzierte. Ostküste, Westküste, Weiß, Schwarz, Rock, HipHop, 70er, 80er: Das sind reichlich Gegensätze für eine gemeinsame und mehr als erfolgreiche Zusammenarbeit, die 2014 im Verkauf ihrer gemeinsamen Firma Beats an Apple für drei Milliarden US-Dollar mündete.

„The Defiant Ones“ erzählt über weite Strecken die Lebensgeschichten der beiden Protagonisten mehr oder weniger stringent nach. Geordnet und mit episodischem Charakter wechselt Hughes zwischen L.A. und New York hin und her und profitiert dabei vom Zugriff auf umfangreiches Archivmaterial und all access nicht nur zu den beiden Hauptpersonen, sondern auch zu Familie, Freunde und Geschäftspartnern, die bereitwillig das erzählen, wie es sich damals zugetragen hat. Mütter, Schwestern, Ex-Frauen, Manager, Berater und natürlich Musiker. Es ist genau diese Mischung, die „The Defiant Ones“ so komprimiert und gleichzeitig ausufern lässt. Die Fakten, gemischt mit der persönlichen Perspektive, den subjektiven Erinnerungen, kontrastiert mit grobkörnigen Super-8-Aufnahmen und kaum besser aufgelösten Clippings aus den Lokalnachrichten und von MTV bestimmen die Erzählung von Hughes, dem es gelingt, mit brillant in Szene gesetzten Interview-Sequenzen Tempo in die Erzählung zu bringen und die Qualität dieses Storytellings über weite Passagen aufrecht zu erhalten. Ob das jedoch alles so stimmt, was einem hier vorgesetzt wird? Nichts Genaues weiß man nicht – ist wohl auch eine Frage der Perspektive.

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Jimmy Iovine

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Musik, Business, Popkultur: Der Regisseur hält diese Komponenten in einem angemessenen Gleichgewicht, was wiederum für die Produktion als solche spricht. „The Defiant Ones“ kann man auch dann schauen, wenn einem Dres Historie und alles, was daran angeschlossen ist, eigentlich egal ist oder im Umkehrschluss auch vornehmlich als HipHop-Doku begreifen, die hier und da das damalige Geschehen auch aus anderen Warten beleuchtet. Die Einblicke, die man von Iovines Arbeit als Chef von Interscope Records bekommt, wie er mit U2 arbeitet, Nine Inch Nails der Konkurrenz abluchst, Marilyn Manson unter Vertrag nimmt und sich mit Death Row Records einen ordentlichen Klotz ans Bein bindet („Am I supporting free speech or am I funding Hamas?“), sind Grund genug, sich die vierteilige Doku anzuschauen.

Auffällig ist, dass die beiden Protagonisten nie gemeinsam interviewt werden. Hughes folgt beiden Hauptpersonen rund um die Welt, zusammen treten sie aber – abseits von Archiv-Material – nie vor die Kamera. Das passt ins Bild: Jimmy Iovine soll sich im kommenden Sommer als Chef von Apple Music zurückziehen, Dr. Dre wurde schon lange nicht mehr auf dem Apple-Campus gesichtet. Muss er vielleicht auch gar nicht. Er ist der erste HipHop-Milliardär, kann sich auf das konzentrieren, was er am liebsten tut – Projekte planen und produzieren. Dabei ist Dre durchaus reflektiert, wenn er gen Ende der Doku sagt: „Making music is a young man’s game.“ Beweisen muss so jemand eh nichts mehr. Und genau dieses Statement ist dann auch das, was die große Klammer von „The Defiant Ones“ bildet. Iovine und Dre haben unterschiedlichste Epochen der Musikgeschichte und der damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten überlebt und gemeistert. Den Gangsta-Kampf zwischen Ost- und Westküste, den Tod von 2Pac, den Reset, die Neuordnung und natürlich den Verkauf von Beats an Apple.

The Defiant Ones Dr. Dre
Jimmy Iovine Porträt

Man kann „The Defiant Ones“ unter den unterschiedlichsten Prämissen schauen: HipHop-Doku? Check. Musik-Business-Doku? Check. Die schlichtweg crazy Biographie zweier crazy persons? Check. Historische Aufarbeitung eines der zahlreichen Erzählstränge des HipHop? Check. Einzig bei der Technologie kommt die Doku etwas zu kurz. Was schade ist. Denn Beats ist mit Kopfhörern ausgesprochen erfolgreich, steht aber auch radikal in der Kritik. Zu viel Bass, zu wenig alles andere. Aber das ist dann wohl Thema einer anderen Doku – die eher auf Kickstarter unterstützt wird, als auch HBO. Schade eigentlich.

The Defiant Ones
USA, 2017
Regie: Allen Hughes
In Deutschland läuft die Doku auf Netflix

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