Plattenkritik: Slowdive – Everything Is Alive (Dead Oceans, 2023)Ein Gruß, ein Kuss, ein Händedruck

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Fünf Alben in 34 Jahren. Slowdive sind in der Tat slow.

Die Welt dreht sich schneller denn je, und Slowdive – die Band von Rachel Goswell, Neil Halstead, Christian Savill, Simon Scott und Nick Chaplin – legen mit „Everything Is Alive“ einen Meilenstein der Entschleunigung vor. Zwischen verwaschenem Eskapismus, der auf den Bauklötzen der frühen Produktionen der Band aus den frühen 1990er-Jahren fußt, und einem neu gefundenen Fokus auf die wesentlichen Bestandteile erfolgreichen Songwritings, sind acht Songs entstanden, die gleichermaßen für sich stehen wie auch an die Historie der Band andocken.

Hilfe. Ich bin doch kein Promoter, ich bin Journalist. In diesem Fall aber natürlich auch Fanboy. Also fangen wir nochmal an.

Meine Geschichte mit Slowdive beginnt in der Berliner WOM-Filiale, 1991. Ich kaufte das Debütalbum „Just For A Day“ auf CD und kann seitdem nicht mehr von der Band lassen. Damals überforderte mich der Sound einfach nur. So eine Produktion hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört. Wunderschöne Songs, mit Ansage ins Jenseits verfrachtet. Nicht zerstört, sondern schlicht und einfach transformiert. Das Studio als Instrument zu begreifen, war mir als Konzept durchaus bekannt und bewusst – die Art und Weise jedoch, wie hier Pop neu aufgestellt wurde, schon. Ich ging zum Konzert, kaufte die EPs nach, jagte nach Testpressungen und Promos, und war glücklich.

Slowdive Portrait 2023

Slowdive, Mai 2023. Foto: Parri Thomas

Bin es bis heute. Denn auch wenn mir aus aktueller Perspektive das zweite Album „Souvlaki“ ein wenig überproduziert und gleichzeitig schlaff erscheint (danke, Brian Eno ... vielleicht?), steuerte die Band mit der dritten und letzten LP „Pygmalion“ in die selbst gewählte und vielleicht auch unvermeidliche Auflösung. Durch und durch brillant, aber zu kräftezehrend. Genau wie bei Talk Talk. Ich hätte gut damit leben können, dass Slowdive zu diesem Zeitpunkt nur noch als Vergangenheit existierte. Dass sich die Musiker:innen als Mojave 3 versuchten, neu zu erfinden, daran aber irgendwie krachend scheiterten. Dass wiederum danach alle ihrer Wege gingen, Solo-Platten veröffentlichten, sich neu orientierten. Die Band hatte in kurzer Zeit so viel hingestellt. Entwürfe, die bis heute gelten. Offenheit bewiesen mit ganz bewusst ausgesuchten Remixen. Alles war gut.

Doch die Bande der Mitglieder waren dicker als erwartet. Vielleicht gehört das zum Aufwachsen im britischen Reading dazu. Was man angefangen hat, wird auch zu Ende gebracht. Und wer weiß schon, was dieses Ende wirklich ist? Und warum denn auch nicht das ausnutzen, was man selbst begonnen und geprägt hat? Warum denn nicht den Dream-Pop-Bands dieser Welt ein paar neue Songs als Vorlage hinlegen, kurz dribbeln und schauen, was passiert? Dream-Pop. Haben wir doch erfunden, oder? Eben.

Ich kürze ab, um auf den Punkt zu kommen, auf das neue Album „Everything Is Alive“. 2017 meldete sich die Band zurück. Nach ein paar Gigs hier und da im Vorfeld, erschien mit „Slowdive“ das vierte Album. Nach 25 Jahren sah ich die Band zum zweiten Mal, am 3. Oktober im Huxley's. Und es war, als hätte sich nichts verändert. Das ist eigentlich ein schlechtes Zeichen, im Falle von Slowdive jedoch das Beste, was uns allen passieren konnte und kann. Slowdive ist eine der ganz wenigen Bands, deren Musik so zeitlos ist, dass selbst 30 Jahre später nichts nach Revival klingt, sondern der Sound immer in den Moment passt. Ganz egal, was draußen, in der sich immer schneller drehenden Welt, passiert: Ein Akkord, eine Melodie, ein Hauch von Vocals – und für ein paar Minuten ist alles gut, bzw. besser. Das kann man kritisieren, als nicht zeitgemäß oder zumindest als nicht upfront genug verbuchen, ist aber der falsche Ansatz. Denn nur aus Momenten der Affirmation heraus gelingt der Neustart.

Slowdive live beim Konzert in Berlin am 3. Oktober 2017

Slowdive in Berlin am 3. Oktober 2017. Foto: Thaddeus Herrmann

Everything Is Alive

Mit dem heute erscheinenden fünften Slowdive-Album habe ich einen guten Teil des hinter uns liegenden Sommers verbracht. Diese Information ist nicht wichtig und soll schon gar nicht angeberisch wirken. Journalist:innen haben manchmal einen kleinen Informationsvorsprung. Das hilft dabei, sich in ein Thema einzuarbeiten und nicht hektisch und kopflos ein mehr oder weniger halbgares Stück zu veröffentlichen. Der Berliner Sommer war 2023 so schön wie weird. Über weite Strecken angenehm kühl, die Stadt ebenso angenehm leer und nackt. Ehrlich, wenn man so will. Ungeschminkt. Und dazu passen die acht neuen Stücke von Slowdive perfekt. Denn auch sie sind auf gewisse Weise leer und nackt.

Ohne große Geste, ohne überbordende Produktion und Gitarren-Wände, als der Sound-Signature des Debüts „Just For A Day“. Und doch knüpft die Klangästhetik genau dort, also 1991, an. Es klingt nur alles souveräner. Vielleicht sogar erwachsener und reflektierter. Die Band versteckt sich nicht hinter dem Studio und seinen Möglichkeiten, überlässt vielmehr den Songs die Bühne und lässt sie strahlen. Vertraute Sounds treffen auf neue Arrangements, die in ihrer reduzierten Herrlichkeit ihre volle Stärke und Größe entwickeln können. „Everything Is Alive“ ist ein Kondensat der kondensierten Essenz aus 34 Jahren gemeinsamem Schaffen. Vieles wird nur angedeutet, wenn nicht sogar angetäuscht. Die Kürze der Songs, die teils radikalen Blenden überraschen, sind manchmal auch frustrierend, weil sich das Potenzial der Kompositionen so nur im Kopf voll entfalten kann. Vielleicht ist das ja der Weg für die Zukunft: Remixe nicht mehr zu veröffentlichen. Ideen nicht mehr auszuformulieren. Sondern sie stattdessen in präzisen Rumpfformen in die Welt zu entlassen und den Rest den Fans zu überlassen. Das alte – jedoch offenbar nicht überalterte – Format des Popsongs in einer Länge von 3 Minuten 30 klang lange nicht mehr so verführerisch. Eine Erkenntnis, die absolut absurd ist, wenn sie von einer Band wie Slowdive vor-, durch- und ausgeführt wird. Aber auch der Beleg für eine selbsterfüllende Prophezeiung. Denn welche Fans der ersten Stunde hätten der Band nicht gewünscht, mit ihren alles überrollenden Songs alles zu überrollen?

Die Welt braucht diese Musik. Wir brauchen diese Musik.

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