Plattenkritik: Erika – Anevite Void (Interdimensional Transmissions)Reden wir über die Zukunft

Plattenkritik - Erika – Anevite Void - Banner

Erika Sherman ist nicht nur Teil von Ectomorph, sondern hält auch mit ihren Solo-Releases die Flagge der electroiden reinen Lehre Detroits hoch.

Am vergangenen Wochenende schickte ich eine Schlange in den von mir in Rekordzeit gegrabenen Kaninchenbau, um mich in letzter Sekunde aus einem YouTube-Loop grobgekörnter Techno-Dokus, die allesamt im Berlin der frühen 1990er-Jahre spielten, zu befreien. Eigentlich habe ich mit der Romantisierung dieser Keller-Raves abgeschlossen. Bzw.: Ich nehme mir es immer wieder fest vor, damit endlich abzuschließen. Es ging doch immer um die Zukunft, oder habe ich da etwas falsch verstanden? Natürlich ist das problematisch. Meine eigene Sozialisation abzuschütteln, ist nicht nur schwierig. Vielleicht ja auch gar nicht zielführend. Denn so egal mir die Momente damals im Tresor, Elektro, WMF etc. heute sind: Die Musik bewegt mich noch heute. Sie kreist im Orbit über mir und hat sich bis heute gegen Musks Starlink-Satelliten behauptet.

Ich mochte Detroit immer dann ganz besonders, wenn die Stadt sich mir still auf den von Ron Hardy geschnittenen 12"s präsentierte. Wenn die Euphorie ihre Magie durch das Sound-Design entfaltete: subtil, deep und futuristisch – und eben nicht mit einem heftig slammenden 909-Gewitter. Das war natürlich auch toll, aber eine ganz andere Geschichte.

Nun ist die Musik von Erika Sherman nicht wirklich still oder gar „ambient“. Zielt aber – finde ich – trotz der Beat-getriebenen Konstruktion eben nicht auf die schnelle Abfahrt, sondern vielmehr auf eine konstante Auseinandersetzung mit dem, was um die Grooves herum passiert. Für mich passt das ins Bild. Ich habe Electro aus Detroit immer genauso gehört und verstanden.

Seit 1997 ist die Musikerin Mitglied von Ectomorph. Auch lange nicht mehr gehört ... Ectomorph. Brendan M. Gillen (kurz BMG) ist mit seiner Musik, seiner Weitsicht und nicht zuletzt seinem Label Interdimensional Transmissions eine dieser Lichtgestalten vom Lake Michigan, die zwar nicht konstant im Schatten anderer stand, aber eben doch nie die Aufmerksamkeit bekam, die seinem Engagement eigentlich zugestanden hätte – bis heute zusteht. Tagesgeschäft in Detroit.

Plattenkritik Erika Anevite Void Portrait

Erika Sherman. Foto: Interdimensional Transmissions

„Anevite Void“ ist Erikas drittes Album. Und das erste, das sie vollständig alleine geschrieben und produziert hat. Lese ich. Faktisch kenne ich die beiden Vorgänger nicht, was mich aber auch gar nicht weiter stört, um ehrlich zu sein. So habe ich zu ihrer Musik einen frischen und ungetrübten Zugang, der mich schon beim ersten Track „Emergency Shutdown“ in einen weiteren Kaninchenbau katapultiert – jedoch einen viel angenehmeren. In Erikas Sound fühle ich mich zu Hause. Hier driften die glockigen Sounds den in Hall getränkten reduzierten HiHats und Percussions entgegen, die Oszillatoren schwitzen ruhig vor sich hin, der Sägezahn akzentuiert episch-melancholisch die schnell vorüberziehenden Wolken. Der Sound von Erika ist geprägt von einem konstanten Zischeln, fußt auf einem scheinbar unendlich reichen Wissen über Maschinen und deren Eigenarten. Trotz Sync und Clock-Signal bestimmen hier alle Schaltkreise ihren ganz eigenen Swing. Genauso wollte ich es immer, habe es mir immer erträumt. Ich glaube noch heute, dass die TR-808 eine Seele hat, den ihr einprogrammierten Groove analysiert, personalisiert und beim Abfeuern jedes Pattern immer wieder anders interpretiert.

Die Tracks auf „Anevite Void“ sind durchzogen von genau dieser Herangehensweise. Jeder Takt ist ein in einen Händedruck gegossener Schulterschluss der Mensch-Maschine. Auf der Oberfläche klingt das alles ganz einfach und atmet von Technik geprägte Historizität. Das stimmt natürlich nicht, bzw. greift viel zu kurz. „Anevite Void“ ist neu und zeitgemäß, die musikalische Antwort auf das Zuckerberg’sche Metaverse. Wer Techno kennt, weiß um die kreativen Potenziale der Dystopie. Erikas Bleeps sind echt, nicht simuliert. Sie schwirren wirklich durch den Raum und nicht ausschließlich durch die Spatial-Audio-Emulation. So wuppen wir die Zukunft.

Ich stelle mir gerade vor wie Ikutaro Kakehashi – der 2017 verstorbene Gründer von Roland – Mark Zuckerberg trifft. Zu sagen und zu erzählen hätten sich beide bestimmt jede Menge: Es gibt da ja diverse Themen mit großer Schnittmenge. Aber ich denke, dass Kakehashi-san spätestens nach zehn Minuten kaum merklich ein Zeichen geben würde und eine TR-808 in dem Konferenzraum ihren großen Auftritt haben würde. „You know,“ sagt dann Kakehashi: „We invented the future quite some time ago. Does your Metaverse make music?“

Und genau das ist der ausschlaggebende Punkt: Die Zukunft ist schon da. Wir müssen sie nur umarmen. Erika macht genau das.

Die Welt ist eine Scheibe20 Jahre HHV: Ein Interview mit Gründer und CEO Tom Ulrich

Doku: Little Simz – „On Stage Off Stage“Auf Tour mit der Rapperin