Lo-Fi-Pop, 121 Moll-Akkorde & nicht ganz lupenreiner Westberliner-Bar-JazzTirzah, Richard Youngs, Nala Sinephro – 3 Platten, 3 Meinungen

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Das Roundtable-Trio kehrt nach viel zu langer Pause mit drei neuen Alben unter dem Arm an den runden Tisch der Musikkritik zurück. 3 Platten, 3 Meinungen, 3 Entwürfe, 3 Haltungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Den Diskussionsstoff liefern Tirzah, Richard Youngs und Nala Sinephro.

Nach doppelter Impfung, prekären Ferien und unsanfter Crash-Landung im Alltag gruppieren sich Blumberg, Cornils und Herrmann hoch über den Dächern der Hauptstadt neu und blicken auf den blutroten Horizont der aktuellen Musik. Blumberg schmeißt das neue Album von Tirzah in den Ring. Die Britin legt mit „Colourgrade“ eine LP vor, die zwischen Pop, LoFi und strikter Verweigerung aller Gemeinsamkeiten einen neuen Gemeinsinn der smoothen Kratzbürstigkeit erschafft. Cornils verguckt sich derweil in das 121. Album von Richard Youngs. Zwischen Posaune und Algorithmen entfaltet sich auf „CXXI“ eine sanfte Revolution. Herrmann sitzt derweil in einer Westberliner Whiskey-Bar und schaltet remote das Album von Nala Sinephro zu. Die junge Britin komponiert zwischen plüschigem Bar-Hocker und gezähmter Ausrasterei im Jazz. Die Argumente fließen genauso stetig wie die Beats, Chords und Atmos der Musiker:innen. Irgendwann werden sie auf dem Dancefloor wieder abklatschen und alles vergessen.

RT-Oktober2021-Tirzah-Artwork

Tirzah, Colourgrade, ist auf Domino erschienen.

Tirzah – Colourgrade (Domino)

Kristoffer: Tirzah muss mir jemand erklären. Ich kenne sehr, sehr viele Leute, die ihre Musik lieben. Und ich kann das nicht nachvollziehen. Also im Sinne von: I don’t get Tirzah. Netter Lo-Fi-Pop, keine Frage, schon eher ungewöhnlich. Aber ich kann, so sehr ich es versuche, doch nicht das Besondere darin sehen. Mit der Musik von Mica Levi, hier erneut für die Produktion verantwortlich, geht mir das genauso. Was nun eben heißt: Jemand muss es mir erklären und vielleicht werde ich dann (endlich, endlich!) erleuchtet. Also: Wer macht den Anfang?

„Das ist schon englische Doppelhaushälften-Verweigerung. So richtig Homebrew.“

Thaddi: Ob ich das wirklich erklären kann, weiß ich nicht. Ich habe aber ein paar Ideen oder zumindest Gedanken. Zunächst verwirrt mich die Platte auch ganz ordentlich. Weil sie so rüpelig losgeht. Dann aber Schritt für Schritt, Track für Track „zugänglicher“ wird, sich also mehr dem Songwriting zuwendet. Natürlich ist das vom Sound Design her und auch von ihrer Haltung immer noch sperrig, irgendwann – so ab dem dritten oder vierten Track – dachte ich mir dann: Ach, das ist so englische Doppelhaushälften-Verweigerung. So richtig Homebrew, also Home Recording. Und so kühl und anti sie sich gibt, finde ich das doch ziemlich unterhaltsam irgendwie.

Christian: Schätze, dass die „Doppelhaus-Verweigerung“ sich terminologisch nicht mehr übertreffen lässt, also versuche ich es mal anders. Was ich eigentlich toll finde bei Tirzah: Sie kam ja doch eher von Dancefloor-kompatiblen Popsongs, hat dann, auf dem ersten Album „Devotion“, zu entschlacktem R'n'B gefunden, und je mehr Leute sie lieben, desto sperriger und minimaler wird sie eigentlich. Bei „Colourgrade“ bestehen die Songs aus Melodien, die kaum mehr als gesungene Adlibs sind, und auf Loops, die ebenfalls eher spärlich instrumentiert sind. Dafür sitzt aber jeder Sound: die Produktion ist ein echter Sprung nach vorne, inklusive ihrer Betonung der kleinen Seltsamkeiten und Idiosynkrasien. Das löst etwas ein, was ich mir zum Beispiel von einem Dean Blunt erhofft hätte.

Kristoffer: Dean Blunt ist natürlich das Stichwort. Ich finde es schon interessant, dass Thaddi diese Platte nach und nach eingängiger findet und du noch darauf pochst, dass sie schön sperrig bleibt. Ich bin da eher bei Thaddi: Da kommen durchaus noch Hits durch! Und klar werden die irgendwie slackerhaft präsentiert und selbstverständlich erinnert das an Dean Blunt oder aber, um bei Hype Williams zu bleiben, an Lolina. Aber die bekommt von mir eher den Pokal für wirklich sperrige Lo-Fi-Pop-Musik überreicht. Bei Tirzah, zumindest mit diesem Album, habe ich eher den Gedanken: Das ist Musik, die entschieden so klingen will, sie muss es angesichts der Entwicklungen in Sachen Musikproduktion in den letzten 30 Jahren aber nun wirklich nicht mehr. Das törnt mich ein bisschen ab, muss ich gestehen, weil sich mir der Sinn und Zweck dahinter nicht unbedingt erschließt. Es ist so eine Art Anti-Ornamentalik, mit der ich mich konfrontiert sehe: alles wegspecken, damit es möglichst eindringlich wirkt. Okay, gut. Nur: So wirklich will das bei mir nicht zünden. Dabei tut es das bei sehr, sehr vielen anderen Menschen. Wieso?

RT-Oktober2021-Tirzah Portrait

Foto: LW Roof

Christian: Vielleicht weil es zweigleisig funktioniert. Du kannst das als Producer:innen-Album hören, aber auch als Pop.

Thaddi: Sparflammige Überproduktion? Willst du darauf raus? Weil das würde es mich schon ganz beschreiben.

Kristoffer: Ja, wir könnten es gemeiner noch aber Prätention nennen. Da ist schon viel Pose drin, oder? Nur wird die anders als bei Blunt und Lolina nicht unbedingt durchs Ironie-Prisma gebrochen. Vielleicht bin ich da aber auch zu binär gepolt und Christian hat Recht: Es muss nicht zwangsläufig entweder Fisch oder Fleisch sein. Vielleicht ist „Colourgrade“ einfach ein Seitan-Album.

Christian: Mir ist erst nach einigen Durchgängen aufgegangen, dass es in den Texten – ziemlich unprätentiös – viel um die Erfahrungen der Mutterschaft geht. Ich will das nicht kleinreden, aber halte das bei Popmusik einfach nicht für ein Superthema, das geht einfach oft schief. Bei Tirzah aber nicht, bei ihr wird es nie rührig. Das liegt an der Kürze der Texte, da ist schlicht kein Platz für Sentimalitäten, aber auch an dieser Trockenheit in ihrem Vortrag, die sich auch in der Musik findet. Mal abgesehen vielleicht von den verzerrten Gitarren, die wohl Mica Levi bzw. ihre noch recht neue Liebe für, äh, Grunge da ab und zu in den Mix geschmuggelt haben.

Kristoffer: Okay, wenn jemand sagt: „Das sind keine Themen für ein Popalbum!“, dann sind das genau die Themen, die ich auf einem Popalbum hören will. Obwohl ich ja ein konsequenter Lyrics-Verweigerer bin, meistens zumindest, weil ich zu viel dann doch einfach zu peinlich finde. Ich kann also nur sagen: Es gibt Songs auf diesem Album, die ich sehr toll finde. Natürlich hat das alles auch Crossover-Potenzial. Aber ich würde beiden – weder Tirzah selbst noch Mica Levi – keineswegs vorwerfen, allzu sehr nach Kalkül zu handeln. Die hätten genug Talent und Fertigkeiten, um ein Supergloss-Popalbum für die Spotify-Charts zusammenzuzimmern und tun es dennoch nicht. Super. Nur ist „Colourgrade“ dann leider doch nicht unbedingt das Album, das Pop in meinen Ohren so richtig schön gegen den Strich bürstet. Da würde ich dann doch wieder auf meinen letztjährigen Liebling verweisen: Daniel Blumberg. Aber ich schweife ab!

Thaddi: Gegen den Strich gebürstet: ja. Vielleicht regnet es ja gerade in die Doppelhaushälfte rein! Aber ehrlich. Ich empfinde – gerade weil ich da zum Teil wirklich großartige Songs höre, die viel mehr Limelight verdient hätten, ohne dabei peinlich sein zu müssen – schon, dass sich Produktion und Haltung bewusst querstellen. Ich will das gar nicht weiter bewerten. Ich empfinde es eher als vertane Chance, allen künstlerischen Entscheidungen zum Trotz. Das ist ihr Style, ihre Entscheidung, und ich schaue hier und da gerne in den Vorgarten, verstehe – da bin ich dann wieder bei Kristoffers Anfangsfrage – aber nicht so ganz, warum es abdriftet.

Christian: Finde das eigentlich gerade geil, die Chancen zu vertun und das Pop-Potenzial nicht auszuschöpfen. Mut zur Skizze und so. Daher für mich das bislang beste Tirzah-Album. Aber weiter mit Mr. Youngs?

RT-Oktober2021-Richard Youngs-Artwork

Richard Youngs, CXXI, ist auf Black Truffle erschienen.

Richard Youngs – CXXI (Black Truffle)

Kristoffer: Weiter mit Mr. Youngs! Lawrence English und Oren Ambarchi scheinen gerade eine australisch-australische Wette laufen zu haben: Wer kann in kürzerer Zeit mehr uneingeschränkt geilen und trotzdem unfassbar weirden Kram herausbringen? Als Richards Youngs' „CXXI“ über den Black-Truffle-Promo-Verteiler reinkam, dachte ich zuerst: Ah, okay, der Typ von Wolf Eyes. Mittlerweile habe ich verstanden, dass ich an den US-Amerikaner Nate Young dachte und den Briten Youngs noch gar nicht so wirklich auf dem Schirm hatte, obwohl der auf über 150 Solo-Releases zurückblicken kann und mich davon sicherlich viel interessieren würde. Im Vorjahr erschien zum Beispiel mit „Metal River“ ein Album, das als Voice-Noise-Platte irgendwo zwischen Masonna und Phew, das heißt genau in meinem Interessengebiet, angesiedelt war. „CXXI“ ist aber nochmals anders und, würde ich sagen, besser. Ich war vom ersten Ton an hooked und kann mich immer noch erst ab dem letzten wieder freizappeln. Wie erging es euch damit?

„Unter dem Schleier leiser Melancholie hören wir ein Zwiegespräch zwischen kontrollierter Strenge und Zufall, nüchtern, luftig, da ist viel Dehnung und viel Dauer.“

Christian: Ebenso instantly hooked. Und die B-Seite ist dann sogar noch besser. Bleiben wir bei der A. Es ist Youngs 121. Album, deshalb der erste Track auch aus 121 Moll-Akkorden, die algorithmisch, also zufällig, gesetzt sind. Und aufs Artwork gedruckt, zum Mitlesen. Aber es gibt auch eine Posaune und Sine Waves und sogar Gesang und ein wenig Besen auf der Snare, der die Akkordwechsel begleitet. Unter dem Schleier leiser Melancholie hören wir ein Zwiegespräch zwischen kontrollierter Strenge und Zufall. Nüchtern, luftig, da ist viel Dehnung und viel Dauer. Und diese Freiräume werden zu einem dynamischen Raum, in dem noch die kleinsten Veränderungen plötzlich ganz große Wirkung erzeugen können. Minimalismus geht imho nicht viel besser.

Kristoffer: Ja, ins Schwarze getroffen. Beziehungsweise in die Midnight Black Earth, denn an Bohren & der Club of Gore musste ich natürlich sofort denken, als erst die Posaune und dann auch noch die Rhodes reinkamen. Aber dann: diese Stimme. Dieser wortlose Gesang. Uff. Ich kann’s kaum in Worte fassen. Thaddi, wie ging’s dir damit?

Thaddi: Diese Platte ist meine erste Berührung mit Herrn Youngs überhaupt – und ich habe in euren Eingangs-Statements schon viel gelernt, erspare mir also die generelle Frage nach der Biografie und Einordnung. Und konstatiere: Ich bin ein großer Fan dieses Albums bzw. der Komposition. Auch ohne die Geschichte oder das Konzept drumherum trifft es einen Nerv bei mir. Das Stoisch-Statische in den Sounds und die meinem Gefühl nach mehr oder weniger freien Vocal-Improvisationen, geknüpft an das von den Akkorden bestimmte Grundgerüst. Da springe ich gerne in Zeitlupe von Zehnmeterbrett und lande in kochend heißen Sand der Verzweiflung. Toll.

Kristoffer: Hitze! Das ist sowieso das Stichwort. Denn wo Bohren & der Club of Gore auf ähnlicher Geschwindigkeit mit ähnlichen Mitteln immer vor allem cool waren, da ist das hier hot – es zieht sich eine irre, intensive Spannung durch diese Platte. Insofern ist sie mehr Jazz, als jedes Bohren-Album es jemals hätte sein können, auch wenn ich den Vergleich nicht überstrapazieren möchte. Es sind vor allem die ersten Sekunden, die diesen Eindruck erwecken. Und doch handelt es sich im Grunde um eine konzeptionelle Arbeit, um Komposition. Aber dass die Umsetzung dennoch so unfassbar spannungsreich ist, das macht sie für mich so außergewöhnlich.

RT-Oktober2021-Richard Youngs-Portrait

Foto: Madeleine Hynes

Christian: Ich würde gerne noch einen draufsetzen und etwas zu den Referenzen sagen. Der Pressetext spricht von Robert Wyatt, und klanglich gibt es diese Ähnlichkeit in der Stimmfarbe der Vocals zweifellos. Musikalisch würde ich Kristoffers Verweis auf die frühen Bohren auch unterschreiben. Dennoch ist das Ergebnis doch etwas ganz anderes. Viel mehr Kompliment geht ja eigentlich nicht.

Kristoffer: Nein, mehr Komplimente kann ich sowieso nicht geben: Das ist so ein ganz, ganz besonderes Album, wie es mir nur alle paar Jahre unterkommt. Und kommt deshalb bei mir mindestens in die Top 5 für 2021. Danke, Nate, äh, Richard Youngs! Dann kommen wir zu Nala Sinephro, oder?

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Nala Sinephro, Space 1.8, ist auf Warp erschienen.

Nala Sinephro – Space 1.8 (Warp)

Thaddi: Da wir ja unter uns sind, möchte ich euch zunächst mein Herz öffnen und über meine irgendwie nach wie vor anhaltende Musik-Allergie berichten. Ihr wisst, wo meine Wurzeln liegen, und kennt die Genres, um die ich mich als Berichterstatter in den vergangenen 25 Jahren vornehmlich gekümmert habe. Vieles davon, wenn nicht das meiste, liegt im Moment hinter einen dicken Nebelwand, die ich nicht mehr durchdringen kann. Darum höre ich seit zwei Jahren vor allem Alben, die ich bereits in und auswendig kenne oder solche, die mich nicht sonderlich fordern. Denn wenn mich heute Menschen fragen, was ich beruflich mache, sage ich nicht mehr als erstes: Musikjournalist. Vielmehr beschreibe ich mich als Sklave in der Schreibstube großer Unternehmen, für die ich Dinge schön mache – und/oder verständlich. Um das einigermaßen unbeschadet durchstehen zu können, brauche ich eine ganz bestimmte Art von Musik. Nämlich solche, die mich nicht von vorne anbrüllt, sondern eher von hinten anhaucht. Ohne jemals ein großer Fan aktueller Extreme gewesen zu sein – sie interessieren mich heute noch viel weniger. Und schon gar nichts wissen möchte ich über die Motivation der Künstler:innen, sich so zu inszenieren bzw. so arbeiten. Da können sich noch so krasse persönliche Geschichten oder Abgründe auftun. Deshalb: Ja, ich habe das Info zu diesem Album gelesen, es aber auch schnell wieder vergessen. Nala Sinephro ist sehr jung, lebt in London, spielt Harfe und Synth und hat zusammen mit hippen Mit-Musiker:innen diese Platte für Warp aufgenommen. Die ist weder wütend, noch modern. Tatsächlich verliert sich die Komponistin in jazzigen, manchmal kosmischen Standards, die vor allem sanft fließen und nur selten explodieren. Es geht um Frequenzen, den Körper und Räume. Doch selbst das ist mir schon zu viel bzw. egal. Ich mag das einfach.

RT-Oktober2021-Nala Sinephro-Portrait

Foto: Mr Labembika

„Ich mag dieses Album tatsächlich sehr gerne.“

Kristoffer: Da wir ja unter uns sind, möchte ich vor allem dir, Thaddi, ein Geständnis machen: Das ist genau die Platte, die ich mir erhofft hatte, als du letztes Mal mit der Kollaboration zwischen Floating Points und Pharoah Sanders ums Eck kamst. Das ist Jazz, aber … irgendwie nicht. Es ist elektronisch … aber irgendwie nicht. Klar, da lassen sich die Räucherstäbchen zu auspacken, aber es ist auch … toll? Ich mag dieses Album tatsächlich sehr gerne. Nachdem Youngs uns nun bösen Meta-Jazz (was ist das Durchexerzieren von wirklich allen Akkorden anderes?) serviert hat, gibt es hier nun, na … Emo-Elektro-Kosmo-Modal-Jazz? Whatever. Ich verstehe absolut, warum und wie dich dieses Album abholt. Und ich kann vermutlich nicht sagen, dass es mir damit exakt genauso geht, aber ich fühle da Ähnliches. Das ist Musik, die gut tut, weil sie gut ist. So einfach.

Christian: Da wir ja unter uns sind, kann ich euch ja mal gestehen, dass ich mir in Sachen Jazz wirklich keinerlei Kompetenz zusprechen würde, und mich diesem Album nur sehr unbedarft nähern kann.

Kristoffer: Aber na ja: Das ist doch allemal Jazz für Leute, die keine Ahnung von Jazz haben! Nur auf die gute Art.

Christian: Naja, okay, also das weiß ich ja nicht, weil siehe oben. Der erste Track kriegte mich mit seinen ziellosen Harfen- und Zupf-Figuren, das ist so gut unterkühlter Spiritual Jazz. Geil. Aber danach schlägt das Album schon sehr deutlich in klassischere Gefilde. Ein sanftes Rhodes, zartes Pling-Pling der Becken, Dialog zwischen Jazzgitarre und Saxophon. Mir gefällt zwar, dass hier nur wenig Platz für Improvisation ist, sondern, wie mir scheint, gewissermaßen nah am kompositorischen Text operiert wird. Aber trotz gelegentlicher elektronischer Einsprengsel ist mir im Abgang der Geschmack von Bar-Jazz zu dominant.

Kristoffer: Wir sitzen hier gerade in Ostberlin bei einem Bier im 14. Stock mit freiem Blick über Westberlin, deswegen ist hic et nunc „Bar-Jazz“ nun echt kein Schimpfwort, sondern etwas, das wir aktiv leben. Oder, Thaddi?

Thaddi: Stell dir vor, wir säßen jetzt in Westberlin und würden kein Bier trinken, sondern einen Manhattan oder sowas. Dann wäre ich beim Klischee-Quartett noch mehr dabei. Aber: Ich muss gestehen, dass mich diese vermeintlichen Klischees überhaupt nicht negativ berühren. Denn – ganz ehrlich – diese Platte würde in ihrer Gänze ja nie in einer Hotelbar laufen. Eben nur die smoothen Tracks. Da bin ich ganz bei Christian. Natürlich habe ich die gleichen Referenzen im Kopf. Und wisst ihr was? Es ist mir scheißegal. Ich finde es beeindruckend, was hier komponiert und gespielt wird. Und ich finde es noch toller, dass eine junge Frau sich in diese Richtung ausprobiert und ihre Wut anderweitig auslebt. Denn die hat sie hoffentlich auch.

Christian: Ja, also der Ausblick hier ist wirklich schön. Ich hol auch gleich nochmal einen Manhattan unten aus der Sportsbar, wenn ihr wollt. Aber. Legt mal nebeneinander wie es klingt, wenn bei Richard Youngs ein Besen auf die Snare trifft, und wie der dagegen hier trifft. Bei Nala klingt das satt, mit einer genau austarierten Dosis Hall, bei Youngs ist das dagegen sautrocken und analytisch. Und darum finde ich das bei Youngs geil, aber hier ist die Anmutung eher: Das könnte dir auch ein Typ im HiFi-Laden vorspielen, der dir Lautsprecher für 2.000 Euro verkaufen will.

Thaddi: Ich bin versorgt, danke!

Kristoffer: Ja, nur, weißt du, Christian, Thaddi und ich würden die Dinger kaufen! Und zwar auf Rate. Nein, ernsthaft: Ich verstehe die Vorbehalte und ich präferiere in jeder Hinsicht Youngs’ Ansatz, aber nichtsdestotrotz: Auch wenn hier schon jede Modal-Jazz-Schublade zwischendurch weit offen steht und jeder Rhodes-Tupfer wirklich viel zu gut sitzt, steckt in dieser Musik für mich noch ein gewisser … Charakter, den ich bei ähnlichen Projekten – und davon gibt es mit dem Portico Quartet hin zu XYZ anderen Sachen aus dem Warp- und Ninja-Tune-Umfeld nun wirklich genug – nicht immer raushöre. Und dieser Charakter basiert vor allem auf einer gewissen Unangestrengtheit. Deswegen auch mein polemischer Verweis auf Floatie und Sanders: Da schien mir eine Gravitas im Spiel zu sein, dieses Oha-House-aber-Ambient-aber-Jazz-aber-Orchester. Und hier wird einfach nur weggespielt, was eben raus muss. Mal kompositorisch recht konventionell, klanglich überwiegend – na, sagen wir es – einfallslos. Aber … sincere. Und das ist ein Gefühl, das sich bei ähnlichen auf Jazz basierenden Crossover-Versuchen nur sehr, sehr selten bei mir einstellt. Gerade weil ich vom Genre an sich keine Ahnung habe.

Christian: Okay, das ist wohl nicht das einzige, wovon du keine Ahnung hast, wenn du deine Lautsprecher auf Raten kaufen musst. Lass dir da beizeiten doch mal ein bisschen Intel geben in Sachen Investment. Vielleicht in Westberlin, bei einem Manhattan?

Kristoffer: Gut, dass du gerade dein Bier ausgetrunken hast. Tschüß! Thaddi und ich zerfließen hier noch ein bisschen gemeinsam zu Nala Sinephro, während du dich auf den Nachhauseweg machst.

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