„Ich bin ein riesiger Fan von deutscher Musik, solange sie nicht versucht irgendwo mitzuhalten“Das Erfolgslabel Erased Tapes im Porträt

2017 — Robert Raths - Nils Frahm All Melody Listening Session at Funkhaus Berlin - photo by Patricia Haas

Robert Raths, der Gründer von Erased Tapes. Foto: Patricia Haas

Das Londoner Label „Erased Tapes“ ist weltweit eine Institution. Vor gerade mal zehn Jahren gründete Robert Raths die Plattenfirma, um die unterschiedlichsten Stile zwischen Minimal Music, Piano und Techno miteinander zu verschmelzen, immer dem eigenen Gusto folgend. Das ist ihm phänomenal gelungen: Heute reicht der Katalog von Künstlern wie Ólafur Arnalds, dem Ambient-Duo A Winged Victory For The Sullen, Efterklang-Mitglied Peter Broderick über den Klavier-Virtuosen Lubomyr Melnyk, den Vibraphonisten Masayoshi Fujita bis hin zu Techno à la Rival Consoles. Und dann ist da noch – natürlich – Nils Frahm. Wir haben Robert Raths getroffen und uns die Entstehungsgeschichte und den Werdegang des Labels erzählen lassen. Ein Gespräch über Herausforderungen, Rick Rubin und das Wichtigste überhaupt – das Gefühl Erased Tapes.

Eigentlich ist Robert Raths damals nach London gegangen, um sein Architekturstudium fortzusetzen. Doch es kam anders. Im WG-Zimmer am Stadtrand mussten Grundrisszeichnungen und Hausansichten Plattenkartons und Cover-Entwürfen weichen – eine gute Entscheidung. Heute fällt der Name Erased Tapes immer dann sehr schnell, wenn es um neue Klaviermusik geht oder der tradierte Begriff Avantgarde mit neuem Leben gefüllt werden muss. Penible Songstrukturen findet man trotzdem kaum, ebenso wenig wie Gesang. Dafür aber jede Menge entschleunigte Instrumentierungen und minimalistische Patterns, die die Dimensionen Zeit und Raum neu erkunden und ausdehnen. 2015 wurde Raths’ musikalisches Netzwerk mit dem britischen AIM Award in der Kategorie „Best Small Label“ ausgezeichnet. Was ist die Erfolgsformel des Gründers? Wie so oft braucht es einen strapazierfähigen Wille, um so ein Projekt überhaupt aufrechtzuerhalten. Entscheidend ist aber auch das gemeinschaftliche Erlebnis von Musik, zu der natürlich auch das Publikum zählt, wie der Labelmacher sagt.

Erased Tapes Logo

Montagmorgen, 9 Uhr, Robert Raths sitzt gut gelaunt in der Lobby des Berliner Michelberger Hotels. Es ist das erste deutschsprachige Interview über die Geschichte von Erased Tapes. Neunzig Minuten Gesprächszeit fürs verbale Aufrollen von über zehn Jahren Labelarbeit, dann ruft letztere und der 37-Jährige muss zum Flieger. Am Ende setzen wir das Gespräch doch noch im Taxi fort. Robert Raths hat sich seine kölsche Leichtigkeit beibehalten, ist und spricht entspannt, als kenne man sich ewig. Anekdoten werden mit leuchtenden Augen und breitem Grinsen kommentiert, dann wieder denkt er mit ernster Miene nach, spricht über seine Zweifel oder über Dinge, die dem Label schaden könnten.

2018 — Robert Raths - Erased Tapes is ten. Festival at Funkhaus Berlin - photo by Patricia Haas 02

Das zehnjährige Labeljubiläum im Funkhaus Berlin. Fotos: Patricia Haas

2018 — Robert Raths - Erased Tapes is ten. Festival at Funkhaus Berlin - photo by Patricia Haas 01

Was hat Berlin, was London nicht hat?
Berlin hat das Funkhaus, wo wir Anfang des Jahres unser zehnjähriges Bestehen gefeiert haben. Es ist eigentlich unvorstellbar, dass ein Gebäude wie das Funkhaus so lange ungenutzt blieb, nur weil es sich vielleicht am anderen Ende der Stadt befindet. So einen Ort kenne ich in London nicht, nur Abbey Road und die Air Studios kommen vielleicht ran. In London ist es viel schwieriger, noch etwas zu finden, das zentral liegt und man sich trotzdem leisten kann. Berlin hat noch diese Verstecke, du machst irgendeine Tür auf, und plötzlich ist da eine neue Welt. Nur das Geklüngel ging mir hier immer auf die Nerven. Du konntest etwas hier, aber nicht dort veranstalten, weil einer mit der Frau von Soundso mal was gehabt hat. Für so etwas ist London viel zu groß und dafür hat auch gar keiner Zeit. Und ehrlich: Dafür sollte man auch keine Zeit haben. In London bewegt sich alles super schnell und ich habe da meinen Rhythmus gefunden. Für manche ist das eine Katastrophe, für mich ist das die Ruhe schlechthin. Wenn ich am Strand liege und nichts zu tun habe, ist das für mich der Albtraum.

Schafft es Musik aus Deutschland überhaupt nach London?
Ich bin ein riesiger Fan von deutscher Musik, solange sie nicht versucht irgendwo mitzuhalten. Wenn sie natürlich ist, ist das für mich der Hammer. Ich habe damals nie drüber nachgedacht, ob etwas deswegen mehr wert ist, weil es sich international besser verbreitet.

Was mich oft am deutschen Umgang mit Musik nervt: Viele vergessen, wo wir eigentlich herkommen. Wenn ich an die fabelhaften Konzertsäle denke, an die klassische Musik, an Can und Kraftwerk oder jemanden wie Karlheinz Stockhausen, über den wahrscheinlich die wenigsten etwas gelernt haben.

Ich weiß nicht ob es die Popmusik war, die uns suggeriert hat, dass London und die USA besser wissen, wo der Hammer hängt.

Ich habe vor einigen Jahren Freunde in London mit zu The Notwist genommen, weil sie diese großartige Band gar nicht kannten.

Lass uns über die Anfänge von Erased Tapes sprechen. Wie fing alles an?
Ich wohnte jahrelang in Zone 6, was eigentlich gar nicht mehr London ist. Es war nicht mehr als ein Kellerloch in einer WG. Mit den anderen drei Mitbewohnern hatte ich nichts gemeinsam und ernährt habe ich mich von Tiefkühlpizzen. Dort habe ich das Label geleitet (lacht). Das innere Feuer für die Sache war so stark, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie ich hause, bis mich Außenstehende mal darauf aufmerksam gemacht haben. Manche Situationen können dann fast peinlich werden, wenn beispielsweise der Manager eines Künstlers bei dir vorbeikommt und fragt, ob soweit alles läuft. Dann saß ich da mit langen Haaren, nur halb so alt wie andere Labelmanager und die Leute hielten mich für einen Hippie, der nicht weiß, wie man Geschäfte macht. Da spielten Stigmata eine Rolle. Es braucht seine Zeit, bis man so etwas nicht an sich ran lässt und auch nicht klein bei gibt.

Was hat dir letztlich geholfen?
Ich habe eine Zeit lang als Wahl-Obdachloser in Amerika verbracht, zu der Zeit, als der Irakkrieg große Auswirkung auf das Land hatte. Wenn man so eine Erfahrung mitmacht, oder für eine Zeit Pfleger ist, oder mal nach China geht, dann kommt man zurück, und plötzlich hat sich das Raumgefühl komplett verändert. Da habe ich auch erst die Architektur für mich entdeckt und mich dabei gefragt: Wie definierst du deinen Raum? Wie viel brauchst du eigentlich? Solche Dinge fließen bei Erased Tapes genauso stark mit ein, wie die Musik selbst. Die Musik ist eigentlich nur ein Teil.

Dazu fällt mir auch eine andere Geschichte ein: Die von zwei frisch geschiedenen Herren, die sich bei einem Konzert in Italien kennengelernt und zusammen die Band A Victory For The Sullen gegründet haben, um sich damit gegenseitig aber unbewusst zu heilen. Hätte man sie damals darauf angesprochen, gesagt, was sie da eigentlich machen, hätten sie wahrscheinlich gesagt: „Verpiss dich“ (lacht). Aber so kamen ein Kalifornier und ein in Texas lebender New Yorker in Italien zusammen und haben sich gegenseitig das Leben wieder gerade gerückt. Man spürt das, wenn man die Musik hört. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass Musik bei einem gewissen Heilungsprozess hilft.

2012 — Nils Frahm, Ólafur Arnalds, Peter Broderick and Robert Raths in Mauerpark Berlin (photo by Kai von Rabenau)

Nils Frahm, Ólafur Arnalds, Peter Broderick und Robert Raths im Mauerpark Berlin, 2012. Foto: Kai von Rabenau

Heute wohnst du in dem Haus, das auch als Label-Quartier dient – aber zentraler. Und einige Mitarbeiter sind auch an Bord.
Wir mussten uns räumlich erweitern und mittlerweile bin ich mit meinen sechs Mitarbeitern in Zone 2 gelandet. Ich erinnere mich, als mich Jon Hopkins mal in seine Ecke im Osten Londons eingeladen hatte. Am Victoria Park ist die Zeit fast stehen geblieben und mir gefiel der Ort sofort. Dort gibt es noch viel Platz, und genau das habe ich gesucht. Im Umkreis von einer Meile gibt es keine U-Bahnstation, keinen Souvenir-Shop, nicht einmal McDonald's. Wenn man zu uns kommt, läuft man zehn Minuten durch den Park. Es gibt stattdessen einen Metzger, einen Fischladen, Gemüsegeschäfte, Cafés und Kneipen in der Nachbarschaft, wo sich die Leute noch mit Namen kennen und man sich gegenseitig hilft. Wenn du Teil der Nachbarschaft wirst, dann bekommst du auch überall einen Freundschaftsrabatt und wirst mit offenen Armen empfangen. An einem Sonntag bin ich da vorbeigelaufen und der Besitzer war gerade am streichen, damit es nicht so schäbig aussieht. Das Gebäude war perfekt gelegen, mit viel Potential und dann kam in mir der Architekt durch. Ich habe es von Grund auf saniert, halbe Wände und den Boden im Erdgeschoss durchbrochen und ganze neun Stahlträger installiert. Wenn ich den ganzen Tag in Meetings oder Studios verbringe, kann ich es gar nicht abwarten, wieder nach Hause zu fahren. Dieses Haus fühlt sich das erste Mal nach meinem Zuhause an. Ich kann unseren Freunden ein Bett anbieten, oder auch Künstlern, die kein Budget für ein Hotelzimmer haben.

2017 — Nils Frahm All Melody Listening Session at Erased Tapes Sound Gallery in London - photo by Alex Kozobolis

Listening Session bei Nils Frahm „All Melody“ in der Erased Tapes Sound Gallery in London, 2017. Fotos: Alex Kozobolis.

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Vor einem Jahr habt ihr die Sound Gallery eröffnet. Was hat es damit auf sich?
Es fühlte sich irgendwann an, als wäre Erased Tapes nur ein Internetlabel, als träfe man sich im echten Leben – wenn überhaupt – nur bei Konzerten. Für mich war es wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem man sich austauschen kann, wo Künstler mit uns die Cover gestalten oder ihre Kunst ausstellen können, wo Besucher auf dem Una Corda spielen können, oder einfach nur einen Kaffee trinken und neue Musik entdecken. Wenn du mal nach London kommst, merkst du sofort, dass das die physikalische Form des Gefühl von Erased Tapes ist. Ein Ruhepol, der zwischen all dem Lärm und Großstadtgewimmel dazu einlädt, Gedanken zu reflektieren. Ich will aber auch nicht undankbar sein, denn ohne das Internet hätte Erased Tapes so nicht stattgefunden.

Wie hat sich das Label in zehn Jahren entwickelt? War die positive Energie immer da?
Ich bin intuitiv und so natürlich auch sehr anfällig, wenn jemand meine Werte, oder das Gefühl nicht teilt. Meine Mitarbeiter kennen das von mir, wenn ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand will und es mir damit selbst schwerer mache. Oft glaube ich aber so fest an diese Sache, dass ich dann immer versuchen will, jemanden zu ermutigen, oder umzustimmen, doch etwas zu riskieren. Und ganz ehrlich, als ich noch alleine war und alles selber gewuppt habe, bin ich ab und zu in kleine Depressionen gefallen und habe mich gefragt: Wofür machst du das eigentlich?

Und was ist heute deine Antwort darauf?
Vor anderthalb Jahren hat sich Rick Rubin wie aus dem nichts bei mir gemeldet. Ich kenne natürlich viele seiner Produktionen und dachte erst, das sei ein Spaßanruf gewesen.

Dann stand Rick Rubin plötzlich vor mir mit seinem Rauschebart, hat sich auf mein Sofa gefläzt und gesagt: „Erzähl mir alles über Erased Tapes.“

Wir haben grünen Tee getrunken und ich habe ihm viele neue Sachen gezeigt, an denen ich zu der Zeit gearbeitet habe. So verrückt es auch klingt, Rick ist ein Seelenverwandter. Ich hatte bis dahin echt alles angezweifelt, weil ich weder geschulter Toningenieur, noch akademischer Musiker bin. Aber ich bin jemand, der mit Seele hört. Er hat mir geholfen, mich selber zu verstehen und meine Arbeit wertzuschätzen.

Wie würdest du selbst deinen Job am besten beschreiben?
Ich bin ein Macher. Ein Kurator, wie auch immer du das nennen willst.

Ich möchte Musik für Menschen zugänglich machen. Deswegen bin ich auch total gegen einen akademischen Ansatz in der Musik, weil das Leute immer ausgrenzt. Genau dafür sollte Musik nicht stehen – sie ist für alle da. Es geht aber auch um Verantwortung, darum, sicherzustellen, dass der Nachwuchs gefördert wird und sich austauschen kann.

2017 — Penguin Cafe performing at the grand opening of the Erased Tapes Sound Gallery (photo by Alex Kozobolis)

Penguin Cafe spielt beim Opening der Erased Tapes Sound Gallery, 2017.

Das klingt so, als ob das deiner Meinung nach zu wenig geschieht.
Ich finde, dass viele Leute still stehen, obwohl sie eigentlich so viel Einfluss haben. Schau dir die etablierten, öffentlich-rechtlichen Radiostationen an. Wenn da jemand an entscheidender Position sitzt, der nur seine Rente sieht, und dadurch einfach überhaupt nichts riskiert wird, dann kann es schnell passieren, dass man hinten ansteht. Es gibt aber auch positive Beispiele, wie Mary Anne Hobbs [Radiomoderatorin bei der BBC, Anm. d. Red.]. Sie haut auf den Tisch und sagt: „Wenn wir uns darauf nicht einlassen, dann sind wir zwei Jahre hinterher.“ Sie hat darauf gepocht, dass wir bei den BBC Proms mitmachen. Die Royal Albert Hall war restlos ausverkauft und die BBC hat plötzlich gemerkt, wie stark das eigentlich ist, wenn man etwas wirklich echt und natürlich lässt. Und dann wollen natürlich große Monopoly-Firmen mit Geld um sich werfen, sobald sie merken, dass da eine riesige Zuhörerschaft ist. Major-Vertriebe und Streaming Services, mit ihrer weltweiten Ausrichtung, glauben, dass man ihre Angebote als Künstler und Label nicht abschlagen kann. Ich finde, dass sich dieser Verlockung traurigerweise viel zu viele beugen. Sie merken gar nicht, dass sie ihre eigene Arbeit, ihre Möglichkeiten und Identität zum Teil völlig aufgeben. Und das spürt natürlich auch der Hörer. Deswegen ist mein Hauptjob oft, unsere Freiheit zu schützen, damit das, was wir uns zusammen mit dem Publikum aufgebaut haben, nicht durch die Kommerzialisierung kaputtgemacht wird. Es passiert so schnell, dass du dich unterwirfst – und eine kleine Entscheidung kann riesige Folgen haben.

Wie gehst du mit kreativem Druck um? Auch nach elf Jahren klingst du sehr idealistisch, aber andererseits muss das Label auch Geld abwerfen. Wie gelingt der Spagat?
Das hat etwas mit der Einstellung zu tun. Die Erwartungen auszubalancieren, ist oft nicht leicht. Für mich war von Anfang an klar, dass sich so ein Projekt organisch entwickeln muss, was schon mal mehrere Jahre dauern kann. Außerdem muss man sich auf seine Arbeit fokussieren, denn wenn man zu viele Leute fragt, wird man schnell vom Wesentlichen abgelenkt. Am wichtigsten ist, dass man immer ehrlich und transparent bleibt und die gegenseitige Erwartungshaltung abklopft.

2017 — Nils Frahm and Robert Raths - Erased Tapes Recording Residency at Vox-Ton Studio in Berlin - photo by Claudia Goedke

Nils Frahm und Robert Raths während der Recording Residency im Vox-Ton Studio in Berlin, 2017. Foto: Claudia Goedke

Lass uns über Nils Frahm sprechen. Sein Album „All Melody“ hat ein sehr großes Medienecho ausgelöst und die Tour ist so gut wie ausverkauft.
Nils hat in dieses Album, und den damit verbundenen Aufbau seines neuen Tonstudios im Saal 3 im Funkhaus, soviel Energie gesteckt, dass es mir am aller wichtigsten war, dies mit einem Blick auf alle Details zu unterstützen. Vom kreativen Input in der Mischphase, über Liederauswahl und Covergestaltung, bis hin zu einer gründlich durchdachten, weltweiten Kampagne, mit der wir das Album vorstellen wollen. Die aktuelle Tour ging im Mai 2017 in den Vorverkauf und war bereits in wenigen Tagen zur Hälfte ausverkauft. Und das obwohl noch keiner wissen konnte, dass es überhaupt ein neues Album von Nils geben wird und wie sich das klingen würde. Obwohl man natürlich ahnen konnte, dass da was kommt. So viel Vertrauen von seinem Publikum zu bekommen, ist etwas ganz Besonderes.

Wie seid ihr mit der riesigen Aufmerksamkeit umgegangen?
Das Interesse war immens und wir haben uns gefragt: Was wollen wir eigentlich? Und noch viel wichtiger: Was wollen wir eben nicht?

Wir haben uns zusammengesetzt und demokratisch festgelegt, dass wir zum Beispiel keine Vorab-Singles von „All Melody“ veröffentlichen, dass vorher nichts im Radio gespielt werden soll, dass es keine Remixe gibt, keine Videos und diesen ganzen Kram. Das wäre dem Entstehungsprozess und der Seele des Albums nicht gerecht geworden.

Wir haben uns diese Freiheit genommen und wissen solche Momente sehr zu schätzen, denn natürlich kann man das nicht immer so machen.

2018 — Nils Frahm live at Funkhaus Berlin - photo by Jerzy Wypych 02

Nils Frahm live im Funkhaus Berlin, 2018. Fotos: Jerzy Wypych

2018 — Nils Frahm live at Funkhaus Berlin - photo by Jerzy Wypych 03

Vier ausverkaufte Gigs in Berlin als Auftakt – warum rennen die Menschen scharenweise zu seinen Konzerten?
Nils hat sich das ja über acht Jahre Stück für Stück selbst erarbeitet. Ich glaube, die Leute treibt es zu seinen Konzerten, weil es sie daran erinnert, wie viel du eigentlich mit deinen Händen machen kannst, ohne dafür zwingend den Computer anzuschalten. Dass du viel mehr Kapazitäten hast und dass das Gemeinschaftsgefühl im Raum eines der schönsten Erlebnisse ist, die man haben kann. Ich kann mich aber noch an eine Zeit erinnern, als er auf der ersten Tour kaum mit dem Publikum sprach. Er war einfach viel zu nervös und wollte sich abschotten, um gut durch sein Set zu kommen. Da fragte sich das Publikum oft, ob es dem Künstler eigentlich wichtig ist, dass sie anwesend sind.

Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
Er hat von Ólafur Arnalds eine Menge gelernt, nachdem ich sie zusammen auf Tour geschickt habe. Óli war das komplette Gegenteil von ihm, was das anging. Er hat schon damals eine Show aus dem Live-Erlebnis gemacht und viel mit dem Publikum interagiert. Mittlerweile kann Nils mindestens genauso gut mit den Leuten kommunizieren.

Und wie läuft's bei den anderen Künstlern?
Die Leute merken, dass mit Lubomyr Melnyk, Masayoshi Fujita oder auch Daniel Brandt Menschen auf der Bühne stehen, die die Sache ernst nehmen, sich selbst dabei aber nicht zu sehr. So entsteht da nicht diese Kluft, wie man das von Pop- und Klassikkonzerten kennt. Ich bin bei der Auswahl der Künstler immer meinem Gefühl gefolgt und das tut das Publikum ebenso. Ich bin Teil des Publikums. Und bei unserem zehnjährigen Jubiläum im Funkhaus, das ja einen Tag nach den Konzerten von Nils stattfand, spürte man richtig, wie dankbar und offen die Leute waren. Ich habe jeden Auftritt angekündigt und zwischendurch kamen Leute, haben mich umarmt und sich einfach für die tolle Stimmung bedankt. Als erstes spielte Masayoshi im Foyer, was eine größere Plattform für ihn war. Er lebt seit zwölf Jahren in Berlin und hatte bisher nur in Cafés und auf kleinen Bühnen gespielt. Jetzt stand er da vor 800 Leuten, die alle pünktlich nachmittags da waren und es war mucksmäuschenstill. Er meinte, danach wären viele zu ihm gekommen und hätten ihn über sein Vibraphon ausgefragt.

Du hast auch Lubomyr Melnyk erwähnt. Er wird dieses Jahr 70 Jahre alt und fällt nicht nur altersmäßig, sondern auch mit seinem extrem schnellen Klavierspiel ganz schön aus der Reihe eures Katalogs.
Das soll mal jemand verstehen. Lubomyr blieb 35 Jahre lang quasi unentdeckt und konnte sich gerade mal so mit privaten Klavierstunden über Wasser halten. Währenddessen hat er seine eigene Technik am Klavier entwickelt und klar, er war total traurig darüber, dass ihn niemand so richtig ernst genommen oder überhaupt verstanden hat, was er da genau macht. Für solche Schicksale wollen wir natürlich auch eine Plattform sein. Es ist wichtig, so jemanden zu ermutigen und ihm Selbstbewusstsein zu geben. Wir haben ihm klar gemacht, dass er sich, für das was er macht, bei der oft zu elitären Klassikwelt nicht entschuldigen muss. Im Gegenteil: Er ist ein Pionier, in dem was er da tut. Irgendwann würde er mit einem gesunden Erwartungsverhältnis Konzertsäle füllen, so wie jetzt. Das macht mich sowas von glücklich, ihn im Barbican vor großem Publikum zu sehen, das sitzt und sagt: Wow, was ein Geschenk!

2018 — Lubomyr Melnyk live at Erased Tapes is ten. Festival at Funkhaus Berlin - photo by Patricia Haas 01

Lubomyr Melnyk live im Funkhaus Berlin, 2018. Fotos: Patricia Haas.

2018 — Masayoshi Fujita live at Erased Tapes is ten. Festival at Funkhaus Berlin - photo by Patricia Haas 03

Masayoshi Fujita live im Funkhaus Berlin, 2018.

2017 — Robert Raths and Ben Lukas Boysen - Nils Frahm All Melody Listening Session at Funkhaus Berlin - photo by Claudia Goedke

Robert Raths und Ben Lukas Boysen alias Hecq bei der Listening Session von Nils Frahms „All Melody“ im Funkhaus Berlin (2017). Foto: Claudia Goedke

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