Fragmente einer GroßstadtBewusstseinserweiterung – oder die Angst vor den Hippies

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Vergangenes Wochenende habe ich mein Bewusstsein erweitert. Dank Bodo, auf einem Festival am See. Bodo hat mir weder psychedelische Drogen verabreicht, noch bin ich mit ihm in sexuellen oder auch nur irgendeine Art von körperlichen Kontakt gekommen.

Mit Freundinnen war ich also auf diesem kleinen wunderbaren Festival. Kurz nach einem wunderbar improvisiertem Konzert in einer ebenso wunderbaren kleinen Ruine, durch das meine Sinne bereits, sagen wir, stimuliert waren. Dann kam Bodo. Bodo lud uns zu einem kleinen Atem-Workshop ein. Kurz überlegten wir, ob wir dafür das nächste vielversprechende Konzert sausen lassen wollten – waren aber viel zu neugierig auf diese angepriesene neue Energie, die er in uns freisetzen solle. Zu viert folgten wir ihm. Eine von uns ließen wir zurück, ihr war das zu hippiemäßig. Ich mochte Hippies.

Zusammen mit circa 20 anderen nahmen wir in einem Kreis Platz auf der Wiese. Unter den mit bunten Schnüren geschmückten Bäumen führte Bodo uns zuerst verbal in die Welt der Atem-Energie ein. Gekonnt jonglierte er mit Worten wie Selbstliebe, die von innen kommt, und Bestätigung, die wir meinen, uns da draußen suchen zu müssen, und Egos, um die es dabei so oft geht. Damit brachte er wohl in ein paar Sätzen die größte Schwäche unserer Welt exakt auf den Punkt. Natürlich sind das Sachverhalte der Menschen, die irgendwie für viele von uns selbstverständlich sind. Anliegen, die schon unsere Großmütter und Mütter uns predigten. Wenn nicht die, dann Psychologie-Magazine, Selbsthilfe-Bücher, ein schicker Self-Consiousness- und Teambuilding-Coach, der uns im Start-up besuchte oder auch die Dove-Werbung. Scheinbar gelang es uns trotzdem noch nicht, sie vollständig zu verinnerlichen. Egoismus scheint ja gerade wieder hoch im Kurs zu sein, wenn man sich so die Schlagzeilen des Weltgeschehens reinzieht (und ja – auch ein Selbstmordattentat ist egoistisch!).

Vor lauter Schönheit und Wahrheit triggerten seine Worte ein paar intensive Emotionen in mir. Ich wollte mehr. Let the show begin. Wir schlossen also unsere Augen und durchlebten ein viertelstündiges aktives Atmen unter Anleitung von Bodo. Wir begannen das Prana, die yogische Atempraxis, mit tiefem Ein-und Ausatmen. Atmen von Kopf bis Fuß, in Bauch, Brust und alle Seiten, und wieder zurück. Wir wurden schneller und schneller. Bis wir bei der Feueratmung angelangten, in der die Luft in kurzen heftigen Stößen unter Anspannung des Bauches aus dem Körper ausströmt und im nächsten Moment wieder automatisch hineinfließt. Wir klangen wahrscheinlich, wie eine Horde vor Hitze hechelnder Hunde oder wie viele übereinander gelegte Tonspuren von Jugendlichen, die in ihrem Zimmer von den Eltern unbemerkten, leisen aber wilden Sex haben. Das ist allerdings nur eine Vermutung. In Wahrheit blendeten wir unser Umfeld aus – Es hörte jeder von uns nur sich selbst, wenn überhaupt. Die Energie floss. Das Qi erfüllte den Körper und den Geist. Für alle rationalen Verfechter der physikalischen Theorien: Durch sich aneinander vorbei bewegenden Luftschichten werden Luftwirbel produziert, die Energie erzeugen. Eigentlich wie beim Wirbelsturm oder einem Gewitter. Also alles naturwissenschaftlich ergründbar.

Genauso fühlte ich mich auch – wie ein Wirbelsturm. Mein Körper fing zu zittern an, von oben bis unten – bis zu den Lippen. Mein Kopf war heiß. Ich musste zwischendurch pausieren, vor lauter energetischem Schwindelgefühl. Dreimal durchliefen wir gemeinsam die Atemvorgänge, von langsam und tief bis zur schnellen Feueratmung. Danach sei alles erlaubt, sagte Bodo. Vor allem entspannen und zurücklehnen und die neue Erfahrung wirken lassen. Ich legte mich erschöpft und zitternd nach hinten zurück auf die Wiese. Als ob die Energie sich in alle Richtungen ausweiten wollte, öffnete sich mein Tränenkanal. Das Gewitter in mir entlud sich per Weinen, Schluchzen, Glucksen und mit einem intensiven Fluss von Tränenflüssigkeit. Meine Freundinnen reichten mir ihre Hände, die ich dankbar ergriff, als bräuchte mein Körper noch mehr Stromleiter, um die Energie zu transportieren. Das Weinen hörte langsam auf und mündete in einem Lächeln.

Völlig überrascht von dem, was da eben passiert ist, richteten wir uns wieder auf, reichten uns alle die Hände und ließen den Sitzkreis zum Stromkreis werden. Wir schickten unsere Wünsche für uns und unsere Welt in einen imaginären blauen Ball in der Mitte des Kreises, ließen ihn gedanklich wachsen, bis er alle Menschen dieser Erde umgab. Dann schrumpfte er langsam wieder zusammen und kam zurück in seinen Mittelpunkt, unseren Kreis. Bodo bedankte sich für unser Vertrauen. Endorphinüberladen lächelten wir alle mild und zufrieden und spürten unser erweitertes Bewusstsein. In diesem Moment fühlte es sich an, als könne ich nie wieder irgendwem wirklich böse sein. Und als wäre da noch viel viel mehr möglich, in mir, für mich – für alle. Wenn doch nur alle ein bisschen mehr Hippie wären.

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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