Unbekannter BekannterEin Portrait des Künstlers Martin Wong

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Mrs. Liberty Face , 1990 Acrylic on linen 80,1 x 118,11 cm Courtesy of the Martin Wong Foundation and P.P.O.W, New York and Galerie Buchholz © Martin Wong Foundation

Die Arbeiten Martin Wongs (1946-1999) blieben lange Zeit unbeachtet. Dann hat sich 2019 die Modemarke Supreme bei ihm bedient. Jetzt hat das KW Institute for Contemporary Art in Berlin dem queeren amerikanischen Maler und Grafiker mit chinesischen Wurzeln eine Retrospektive zu Werk und Leben gewidmet. Höchste Zeit, Martin Wong besser kennenzulernen, findet unser Autor Pasqual Solaß.

Manchmal widerfährt uns etwas, das uns trifft — das uns betroffen macht, aber bei dem wir auch merken, dass es uns betrifft, mit uns zu tun hat. Etwas trifft uns dann im Guten, und wir wissen gleich, dass wir so schnell nicht damit fertig werden, dass es uns begleiten wird, unterwegs, unter der Dusche.

Wenn wir sie lassen, kann eine Begegnung mit Kunst so etwas wie ein Satzzeichen, ein Punkt, drei Punkte, oder ein Gedankenstrich in unserem Leben werden. Die Kunst Martin Wongs hat sicherlich das Potential dazu. Und auch wenn gerade das Unvorhersehbare an so einschneidenden Erlebnissen deren Reiz ausmacht: Vielleicht gibt es etwas an Wongs Arbeiten, das jene durchschlagende Wirkung begünstigt, die uns manchmal ein autobiografisches Ausrufezeichen beschert. Martin Wong, ein unbekannter Bekannter. Counter-Culture, China-Town, Gefängnis-Szenen, queeres Begehren, Backsteine, Graffiti. Seine Arbeiten überraschen, weil sie so merkwürdig vertraut wirken. Woran liegt das?

Martin Wong ist das Kind chinesisch-amerikanischer Eltern. Als Wong vier ist, stirbt sein biologischer Vater an den Spätfolgen einer Tuberkulose-Erkrankung. Während seine Mutter in San Francisco einen Job sucht, lebt er zunächst bei einer Pflegefamilie. Später kann er bei seiner Mutter, deren zweitem Mann und einer Freundin und Kollegin der Mutter aufwachsen. Die Mutter von Martins biographischem Vater stammte aus Mexiko, was sein Selbstverständnis als „Chino-Latino“ und die Präsenz mexikanischer Motive, gerade in seinen früheren Arbeiten, erklärt.

Wong hat nie Chinesisch gelernt, was bei Kindern mit diasporischer Geschichte oft der Fall ist. Wenn der Zugang zu der Sprache fehlt, die sie mit ihrer Geschichte verbindet, müssen sie mit anderen Mitteln arbeiten, sich diese zu erschließen. Meistens sind es die sprachlichen, visuellen, künstlerischen Methoden des Westens, die vor diesem Hintergrund eine kreative Aneignung erfahren. Vielleicht ist es wenig überraschend, dass Martin Wong schon früh chinesische Artefakte sammelt. Von seinem Taschengeld kauft er sich ukiyo-e-Drucke, chinesische Gemälde, Jade-Daumenringe für Bogenschützen, aber auch Original Zeichnungen von Underground-Comics, Lunchboxen und andere Kitsch-Objekte, häufig mit Darstellungen rassifizierter Menschen.

In Martin Wongs Leben gab es einige jener ereignishafter Begegnungen, die seinem Leben und seiner Kunst — untrennbar verbunden — immer wieder eine andere Richtung gegeben haben. Bei diesen Treffen, die auch Treffer waren, stand Kunst nicht immer im Vordergrund, war aber stets im Spiel.

1971, Wong hat mittlerweile einen BA-Abschluss trotz Hippie-Existenz, reist er nach Afghanistan. Er nimmt an einem Mosaik-Kurs in Herat teil, besucht auch Indien, Nepal, Pakistan und die Türkei, reist durch Europa. Er sucht gezielt nach neuen Techniken, entnimmt sie ihrem kulturellen Kontext, eignet sie sich an – nicht ohne touristischen Blick. Seine Art, außerwestliche Symboliken und ethnische Stereotypen in psychedelische Gemälde zu gießen, wird er als „melting“ bezeichnen. 1978 zieht er nach New York, um Maler zu werden. Er arbeitet als Hotelportier, weil er so ein Zimmer vom Hotel gestellt bekommt. Später kann er ein zweites Hotelzimmer anmieten und richtet dort dauerhaft sein Atelier ein. Im selben Jahr trifft er auf dem Flohmarkt an der Canal Street auf einen Spielzeug-Bahnhof. Im 1998er Video-Portrait von Charlie Ahearn (Regisseur des legendären Hip-Hop-Films „Wild Style“, 1983) erklärt er, dass dieses Model den Anfang seiner Obsession mit Backsteinen markiert. Mauern und Wände werden zum wiederkehrenden, beklemmenden Motiv dieser Zeit.

Wong liest viel. In seinen Gemälden entwickelt er seine eigene Art queerer Astrologie. Eine folgenreiche Begegnung widerfährt ihm in der U-Bahn: Ein stummer Mann spricht ihn mithilfe seiner Finger an. Wong ist fasziniert und inkorporiert das Fingeralphabet der amerikanischen Zeichensprache in seine Arbeiten. 1990 wird er für das New Yorker Department of Public Transportation Verkehrszeichen unter Verwendung des Fingeralphabets entwerfen.

Nach drei sehr isolierten Jahren in New York trifft Wong 1982 mit dem puerto-ricanischen Dichter Miguel Piñero beim Eröffnungsabend einer Galerieausstellung, die Wong eine „Crime Show“ nennt, zusammen. Piñero, der als „echter Krimineller” eingeladen wurde, las später am Abend aus seinen Gedichten. Kurze Zeit darauf ziehen die beiden zusammen, werden einander Liebhaber. Piñero, Mitgründer des „Nuyorican Poets Café“ auf der Lower East Side, auch „Loisaida” genannt, führt ihn im Viertel herum. Die erste Kollaboration der beiden ist „Attorney Street Handball Court 1982”, Wongs erstes Gemälde einer Nachbarschafts-Szene und eine Hommage auf einen befreundeten Graffiti-Künstler. Ebenso entstehen Wongs Gefängnis-Gemälde, wie etwa „The Annunciation According to Mikey Pinero (Cupcake and Paco)“, 1984, unter direktem Einfluss von Piñeros Gefängnis-Drama „Short Eyes”, das später für den Broadway adaptiert wurde. Es ist das erste Stück eines Puerto-Ricaners, das dort je aufgeführt wurde.

In den späten 80ern und frühen 90ern ändert sich etwas an der Rezeption in der amerikanischen Kunstwelt. Wongs Werke werden nun in den Zusammenhang von AIDS und asiatisch-amerikanischer und LGBTQ+ Identitäten gestellt. In diesem Zeitraum beginnt Wong, die Arbeiten von Graffiti-Künstler:innen zu sammeln. 1988 gründet er mit Peter Broda das „Museum of American Graffiti“. Um das Museum zu finanzieren, verkauft er eine Mondrian-Zeichnung aus seiner Sammlung.

Nach einer schweren Lungenentzündung wird bei ihm 1994 AIDS diagnostiziert. Er zieht zurück nach San Francisco zu seinen Eltern, da dort die Versorgung für AIDS-Patienten besser ist. 1996 bessert sich sein Zustand und er kann zeitweise nach New York zurückkehren. Seine Gemälde feiern Graffiti und die Feste der puerto-ricanischen Community. Nach Ausstellungen in seiner eigenen Galerie P.P.O.W. 1997-98 und der Ausstellung seines 1986er-Werks „Big Heat“ im Whitney Museum of American Art, verschlechtert sich sein Zustand merklich. Im Krankenhaus arbeitet er bis zu seinem Todestag am 12. August 1999. Er wurde 53 Jahre alt. Beerdigt wurde er in San Francisco.

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Malicious Mischief, 1991 Acrylic on canvas Courtesy of the Martin Wong Foundation and P.P.O.W, New York © Martin Wong Foundation

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Psychedelic Triptych , 1988 Acrylic on canvas, triptych 242,9 x 350,5 x 4,6 cm Courtesy of the Martin Wong Foundation and P.P.O.W, New York © Martin Wong Foundation

Martin Wongs Kunst ist uns gleichermaßen unbekannt und bekannt. Das liegt an seinem eigensinnigen Blick für diasporische Communities, aber auch an seinem Interesse für Graffitikunst. Sein Stil ist kaum abstrakt, er sammelt, versammelt pop- und subkulturelle Referenzen, ist inspiriert von seiner unmittelbaren Umgebung, von seiner Nachbarschaft.

Auf einer zweitägigen Konferenz, die das Berliner KW Institute for Contemporary Art anlässlich ihrer Retrospektive ausrichtete, sprachen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah darüber, wie die Aneignung, Reproduktion und Kommodifizierung diasporischer Kunst durch die Mode- und Werbe-Industrie unsere vermeintliche visuelle Vertrautheit mit jenen Themen, die auch Wong interessierten, verstärkt und zugleich verstellt. Das könne man nicht zuletzt an der Marke Supreme sehen, die 2019 Pullover und Skateboard-Decks mit Martin-Wong-Artwork verkaufte. Aber unsere Vertrautheit mit Wongs Kunst erleben wir tagtäglich in unserer direkten Umwelt. Denn die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen für diasporische Gemeinschaften sind sich in urbanen Zentren so ähnlich, dass wir, wenn wir durch eine Martin-Wong-Ausstellung gehen, gewissermaßen immer auch durch die multikulturellen Nachbarschaften unserer Metropolen mit ihrer kolonialen Vergangenheit und postmigrantischen Gegenwart gehen.

Auf einen Pappkarton schrieb Martin Wong 1984 im Zuge einer Ausstellung in der Semaphore Gallery in New York: „Taking down to street level this time, I wanted to focus in close on some of the endless layers of conflict that has us all bound together… Always locked in, always locked out, winners and losers all …“

Die Martin-Wong-Ausstellung „Malicious Mischief“ im KW läuft noch bis Mitte Mai.

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