„Er musste den Sound buchstäblich anfassen“Interview: Filmemacherin Zuzanna Solakiewicz über den verstorbenen polnischen Elektronik-Komponisten Eugeniusz Rudnik

Rudnik alt Start

Alle Fotos: Ula Klimek-Piątek

Eugeniusz Rudnik gilt als einer der Pioniere der elektroakustischen Musik Polens. Mit internationalen Größen wie Arne Nordheim, Karl-Heinz Stockhausen und Franco Evangelisti hat er zusammengearbeitet und um die 100 Werke selbst komponiert. Viele sind am Experimentalstudio Radio Polska in Warschau entstanden, wo er seit dessen Gründung 1958 gearbeitet hatte. Sein Œuvre erstreckt sich von Radiofeatures, über Filmmusik bis hin zu Klanginstallationen für Kunstaustellungen. Am 24. Oktober 2016 ist Rudnik verstorben, kurz vor seinem 84. Geburtstag. 


Die polnische Filmemacherin Zuzanna Solakiewicz hat sich in ihrem 2014 erschienenen Dokumentarfilm „15 Corners Of The World“ mit Rudniks Musik auseinander gesetzt. Doch anstatt seine Musik einzuordnen, zu erklären, auseinanderzunehmen, hat sie selbst ein Experiment gewagt. Mittels mal abstrakten, mal konkreten Bildern visualisiert sie Rudniks Musik. „Sound is found and happens in 3-dimensional space“, liest sie aus seinem Tagebuch und zeigt dazu Bilder eines Lärmschutzwalls neben einer Autobahn. Mit ihrem Film bietet Solakiewicz einen emotionalen Zugang zu einer Musik, die von vielen als intellektuell, verkopft und konzeptionell wahrgenommen wird, dabei war das große Faszinosum und der Antrieb für Rudnik in seinem Schaffen die Emotion. Katharina Tress hat die Filmemacherin getroffen und befragt.

In Ihrem Dokumentarfilm visualisieren Sie Rudniks Musik mittels Choreographie, Bilder von Baumwipfeln oder abgerissenen Häusern. Wie sind Sie darauf gekommen?
Ich habe Rudnik bei der Arbeit an diesem Projekt nicht gleich persönlich kennengelernt, sondern zunächst einmal mit seinem Archiv gearbeitet. Er hat ein riesiges persönliches Archiv aus Notizen und Tagebüchern. In den 60ern und 70ern musste er dem Experimentalstudio des Polnischen Radios (ESPR), in dem er arbeitete, seine Ideen schriftlich vorlegen. Ich habe angefangen, diese Notizen zu lesen und dabei ziemlich schnell festgestellt, dass er unbewusst sehr viele visuelle Metaphern benutzt, um das Konzept seiner Musik zu definieren. Das entspricht unserer Kultur und Sprache. Der Titel des Films „15 Corners Of The World“ ist einfach seine Vorstellung wie 16 Stimmen ein- und ausfaden und sich dabei zueinander verhalten. Diese Metaphern waren für mich der Schlüssel dazu, die passenden Bilder zu kreieren. Wenn er in seinem Notizbuch etwas schrieb wie „das ist so, wie etwas an seiner Achse zu nehmen und sich umzusehen“, dann haben wir die Kamera auf das Stativ gestellt und genau diesen Shot gemacht. Wir wollten keine weitere Ebene hinzufügen, sondern seine visuelle Sprache in Bilder übersetzen.

Was wollten Sie mit Ihrem Film erreichen, was war Ihnen wichtig?
Im Film hat das Bild immer Priorität, der Sound ist dazu da, das Bild in seiner Wirkung zu unterstreichen. Ich habe mich gefragt, ob es nicht möglich ist, dieses Verhältnis umzudrehen. Wir sind so sehr daran gewöhnt, die Welt um uns herum visuell wahrzunehmen. In „15 Corners Of The World“ habe ich zuerst die Musik und den Sound geschnitten und dann erst begonnen mit dem Kameramann Zvika Gregory Portnoy zu arbeiten. Normalerweise fängt man mit den Bildern an, der Narrative und den Dialogen, dann erst kommt der Komponist und kreiert dazu die passende Musik. Es passt aber nie ganz. Immer wird die Musik unterbrochen, ein- und ausgefadet. Mit unserem Film habe ich es anders herum aufgezogen und versucht, so wenig wie möglich in die Musik einzugreifen.

Hatten Sie jemals Bedenken, das Konzept könnte nicht aufgehen?
Nein. Der Film war von Anfang an eine Herausforderung. Wir wollten auf 16mm filmen und dann auch gleich einen längeren Dokumentarfilm – reiner Selbstmord. Niemand wollte uns Geld dafür geben. Es war ein echtes Abenteuer, nicht nur für die, die das Projekt realisiert, sondern auch für jene, die es finanziert haben. Sie mussten andere davon überzeugen, einen Film zu unterstützen, der weder ein Musikgenre erklärt, noch ein Porträt im herkömmlichen Sinne ist. Ich wollte einen Film über Musik machen, in dem die Musik Protagonist ist. Dann sollte es auch noch ein Dokumentarfilm sein, kein Experimentalfilm. Bei so vielen Herausforderungen und Risiken gab es einfach keinen Platz für Angst oder Zweifel.

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„Rudnik übernahm die Rolle eines Performers, eines Réalisateurs der Musik. Wann immer ein Komponist kam und eine Idee für ein Stück hatte, wusste er als Techniker, wie diese mit dem verfügbaren Equipment des Studios am Besten umzusetzen war. “

Das klingt so kompromisslos wie Rudniks Musik.
Ich glaube die stärkste Analogie zwischen seiner Musik und unserem Film ist die Einstellung zur Arbeit. Für Rudnik sollte das künstlerische Schaffen nicht von der technischen Evolution bestimmen werden. Er hat nie mit einem Computer gearbeitet. Für ihn war die Aufnahme mit den Tapes nicht eine, sondern die einzige Art zu arbeiten. Er musste den Sound buchstäblich anfassen. Das ist eine andere Dimension, unsere Arbeit zu begreifen. Wenn wir an einem Computer arbeiten, können wir alles immer multiplizieren, so oft wir wollen, mit nur einem Knopfdruck. Wir können es löschen und wiederherstellen, wir haben unsere magische Command+Z-Tastenkombination, um etwas wieder rückgängig zu machen. All das verändert unsere Einstellung zur Arbeit. Wenn Rudnik etwas geschnitten hat, gab es kein Command+Z, es war für immer verloren.

Rudnik hatte am ESPR zunächst als Tontechniker gearbeitet. Wie wurde aus ihm ein Komponist?
Józef Patkowski, der erste Leiter des Studios, hatte ihn damals als Techniker angestellt und damit eine Stelle kreiert, die es in westlichen Studios so nicht gab. Rudnik übernahm die Rolle eines Performers, eines Réalisateurs der Musik. Wann immer ein Komponist kam und eine Idee für ein Stück hatte, wusste er als Techniker, wie diese mit dem verfügbaren Equipment des Studios am Besten umzusetzen war. Rudnik ist so mit vielen berühmten Komponisten in Berührung gekommen, wie beispielsweise Wlodzimierz Kotonski, Andrzej Markowski, Krzysztof Penderecki, Bogusław Schaeffer, nach einigen Jahren sogar mit Arne Nordheim. Dank des Sozialismus hatte Rudnik einen richtigen Arbeitsvertrag. Was bedeutete, dass er jeden Tag von 8 bis 18 Uhr am ESPR arbeitete. Aber nicht jeden Tag kamen Komponisten in das Studio, denen er helfen musste. Er hatte viel Zeit für sich, die er zwischen all den Tapes und Aufnahmegeräten verbrachte. Also fing er an, Dinge auszuprobieren. Die Musiker und Künstler, die er bei seiner Arbeit kennenlernte, haben ihn dabei sehr inspiriert. Hinzu kam, dass Rudnik quasi über alle technischen Mittel am ESPR verfügte. Er konnte somit sehr spontan und frei arbeiten, sich ausprobieren.

Das scheint ein so natürlicher Prozess zu sein, Musiker zu werden …
So einfach war das nicht. Die Zeiten waren sehr hart. Als Techniker war man kein Komponist und anders herum. Es war nicht einfach für ihn, diese Hürde zu überwinden. Die Künstler, die zu ihm kamen, hatten immer ein dickes Buch dabei, in dem sie das Konzept des Stückes aufgeschrieben hatten. Rudnik hingegen machte alles per Hand, binnen fünf Minuten nahm er die geschnittenen Stücke, multiplizierte sie und fertigte eine Komposition quasi in Echtzeit an. So ist „Dixie“ entstanden, ein Track, der auch in dem Film zu hören ist. Dann steckte er das Stück in einem Briefumschlag und schickte ihn in die USA, um an der First International Electronic Music Competition am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire teilzunehmen und wurde ausgezeichnet! Das war 1968. Danach hörte er von niemandem mehr, er sei bloß ein Techniker.

rudnik portrait hochkant

Seine Stücke tragen Titel wie „Collage“ und „Ready Made“. Inwiefern bezieht sich Rudniks Musik auf diese Kunstformen?
Das experimentelle Studio war Teil des Polnischen Rundfunks. Der Sender verfügte über ein riesiges Archiv an Sounds. Man stellt sich ja oft vor, wie Musiker in die Stadt gehen, sich dort auf Geräusche konzentrieren oder einen Spaziergang machen in der Natur, um Sounds aufzunehmen. Auf Rudnik passt diese Vorstellung überhaupt nicht. Er hat sich eingeschlossen. Sein Studio hatte noch nicht mal ein Fenster. Er hatte nur dieses Archiv. Er liebte es, die fertigen Sounds zu benutzten, sie neu zusammenzusetzen und zu interpretieren. Das Experimentalstudio war gleichzeitig auch Werkstatt für beschädigte Aufnahmen. Wann immer die Soundaufnahme eines Interviews für eine Reportage zum Beispiel schief gegangen war, ging man zu Rudnik, um diese reparieren zu lassen. Das war seine zweite große Liebe. „Collage“ ist ein Stück, das nur aus diesen misslungenen Aufnahmen besteht. Aus Geräuschen, ganz am Anfang einer Aufnahme, wenn jemand ins Mikrofon spricht. Er nahm nur diese ersten Sekunden und machte daraus Musik.

Was hat ihn so daran fasziniert?
Die Emotionen. Das Schluchzen, das Schlucken, Räuspern, Aufstoßen, das sind alles Emotionen. Momente, in denen man seinen Körper nicht ganz unter Kontrolle hat.

Rudnik Studio

„Wie war es möglich, dass es in einem kommunistischen Land plötzlich dieses moderne Studio für experimentelle Klänge gab – mit intensiven Kontakten in den Westen?“

Das Experimentalstudio des Polnischen Rundfunks wurde 1957 gegründet, als eines von vier Experimentalstudios in Europa. Es gab außerdem noch das Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln, den Radiophonic Workshop der BBC und den Groupe de Recherches Musicales in Paris. Wie wichtig war Polen für diese Musik in der Zeit?
Es war damals ein wahres Glück für Polen. Man könnte fragen: Wie war es möglich, dass es in einem kommunistischen Land plötzlich dieses moderne Studio für experimentelle Klänge gab – mit intensiven Kontakten in den Westen? Von Anfang an waren die Türen des Studios offen für den Westen. Es gab viel Austausch mit dem WDR in Köln, mit den anderen eigentlich auch. Musiker aus dem Westen sind an das ESPR gekommen und andersherum. Rudnik hat mehr als ein Jahr in Köln mit Stockhausen zusammengearbeitet. Ich glaube, die Freiheit des ESPR hatte vor allem mit dem Politiker Włodzimierz Sokorski zu tun. Er stand in der Polnischen Arbeiterpartei dem Radio- und Fernsehkommitee vor, das Studio war seine Idee. Rudnik hat mir erzählt, wann immer es auch nur Versuche gab, das das ESPR in Frage zu stellen, habe Sokorski sofort abgewiegelt, „das Studio befindet sich unter meinem persönlichen Schutz, das wird nicht diskutiert“, hat er dann immer gesagt und so war es auch.

In Deutschland haben Pioniere elektroakustischer Musik etwas Großes angestoßen und viel Einfluss auf die weitere musikalische Entwicklung auch über die Grenzen Deutschlands hinaus ausgeübt. Was ist aus dem ESPR erwachsen?
Unser Film! Das meine ich ernst! In den letzten Jahren gibt es ein wachsendes Interesse am Studio und der Idee dahinter. In den 80ern, 90ern und 2000ern gab es tatsächlich eine große Lücke. Das Kriegsrecht in Polen Anfang der 80er war mehr oder weniger das Ende aller Aktivitäten. Jetzt wächst das Interesse wieder. In Polen gibt es das Label Bôłt Records, das experimentelle Musik vertreibt und ihre Interpretationen. So bin ich auch mit Rudniks Musik in Berührung gekommen. Ich war auf einem Konzert des Musikers Mikołaj Pałosz, der Rudniks Musik mit seinem Cello interpretierte. Völlig wahnsinnig, elektronische Musik mit einem Cello spielen zu wollen. Eigentlich unmöglich, man kann elektronische Musik nicht instrumental nachspielen. Er hat es aber trotzdem getan!

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