Che Guevara And Debussy To A Disco BeatBuchrezension: Factually – Pet Shop Boys in Theorie und Praxis

factually

Seit über 30 Jahren befinden sich die Pet Shop Boys im Spannungsfeld zwischen Bubblegum-Pop und Avantgarde, zwischen Mainstream-Kompatibilität (brachten sie doch mit „Go West“ eine Gay-Hymne in die West- und Südkurven der Fußballstadien) und Club-Sub-Kultur. Jan-Niklas Jäger setzt sich in „Factually“ mit ihren Texten und Themen auseinander. Wie gefällt dem ewigen Pet-Shop-Boys-Fan Jan-Peter Wulf das Buch?

A basic principle of my lyric-writing and our songwriting is that we should try to bring ideas and concepts from outside pop into our songs. I have never thought that “love is a bourgeois construct“, but I liked the idea of bringing academic/Marxist language into a pop song, and then constructed a lyric which tells a story and gave me the excuse to use words like Schadenfreude.

Schreibt Neil Tennant, der Singer-Songwriter der Pet Shop Boys, in der Einführung des 2018 erschienenen Buches „One Hundred Lyrics And A Poem“. Dieses stellt die Songtexte des großen Popduos vor. Es sind Texte, die über den Künstler hinausgehen (Tennant hatte sich über die Tendenz, dass heutige Popstars eigentlich nur über sich schreiben, vor einiger Zeit kritisch geäußert). Während dieses Buch, von sehr kurzen Anmerkungen und dem Intro abgesehen, die Texte für sich stehen und wirken lässt, nimmt ein anderes, ebenfalls kürzlich erschienenes Buch, seine Leser mit in den close-reading-Modus: „Factually“ von Jan-Niklas Jäger, in der Reihe Testcard Zwergobst des Ventil Verlags erschienen, widmet sich – so liest man im Untertitel – den „Pet Shop Boys in Theorie und Praxis.“

Das klingt reichlich akademisch. Und wer die legendäre Testcard-Reihe kennt (die es übrigens immer noch gibt, unser Autor Kristoffer Cornils trägt u.a. zu ihrer neuen Ausgabe bei), der weiß: Dort wird die Poptheorie ernst genommen. Mich selbst begleiteten die teils erhellenden, teils enigmatischen Texte plus teils erhellenden, teils enigmatischen Rezensionen von Platten, die ich erstens nicht kannte und zweitens nicht mal so eben bekommen konnte (Jahrtausendwende) durchs Studium. Ich hätte dafür wirklich einen Teilnahmeschein verdient gehabt! Den gab es dafür einige Jahre später bei einem sehr nerdigen Vortrag eines anderen Pet-Shop-Boys-Fans in Berlin, den Namen habe ich leider vergessen, wirklich für das Publikum, mit Stempel.

Doch nach einigen Seiten Lektüre das Aufatmen: Die academia bleibt weitgehend draußen, „meine“ Boys (Fan seit ca. 1987, Kauf des Albums „Introspective“ als Kassette im Kaufhaus Hohe Pforte Quakenbrück) kommen doch nicht in die poststrukturalistische, kritisch-theoretische oder kulturwissenschaftliche Mangel. Buchautor Jäger ist vielmehr selbst Fanboy, wenngleich einige Jahre jünger (als „Always On My Mind“ im Radio lief, war er gerade erst geboren). Und macht in seinem essayistisch aufgebauten Buch auch keinen großen Hehl draus, etwa wenn er Chris Lowes Synthie-Riff aus „Domino Dancing“ in den Himmel lobt und ebenso „Being Boring“ als – zurecht, vielleicht – besten Song abfeiert. Gut so. Auch gut: Statt die Songs bzw. Texte ein einen Theoriediskurs zu tauchen, arbeitet er sich lieber direkt an ihnen selbst ab. Er clustert sie thematisch von Portraits der britischen Klassengesellschaft („Suburbia“, „West End Girls“) über „gay culture“ („I Wouldn't Normally Do This Kind Of Thing“, „To Speak Is A Sin“, „Go West“) bis hin zum sich durchs ganze Werk ziehende Spannungsfeld zwischen Mainstream-Massenmarkt und Avantgarde-Subkultur. Besonders schön ist, dass er dabei zwischen den Dekaden, Schaffensphasen und Alben immer wieder hin- und herspringt und auf diese Weise spannende Querverbindungen herstellt. Thematisch eingeflochten werden ältere Interviews und Portraits von und mit den Künstlern. So wird für die Leser*innen, ob Fan oder nicht, ziemlich gut deutlich, worum es Tennant und Lowe seit über 30 Jahren geht, wie sie Kritik und Kommentar zu Gesellschaftsthemen vom Thatcherismus bis zum Konsum-Overkill in einer poppigen, goutierbaren Form darbieten. Eine Form, die weder moralinsauer noch selbstbezogen noch auf der vergeblichen Suche nach Authentizität ist – denn das ist der große Fehler des Rock im Verständnis der Boys.

Mehr Hybris geht nicht: U2 spielen „Where The Streets Have No Name“ von oben herab für das Volk

Das Video betont zweidimensional, die Montage mit einem anderen Stück ein frühes Beispiel für Bastard Pop: „Where The Streets Have No Name (I Can't Take My Eyes Off You)

Das zeigt sich besonders gut, indem man zwei Songs und Videos nebeneinanderstellt: „Where The Streets Have No Name“ von U2 und die Cover-Version der Pet Shop Boys, in die sie „Can't Take My Eyes Off You“ von Frankie Vallis einmontieren. Jäger schreibt: „… während U2 ihr Bestes tun, um die Emotionalität und damit „Wahrhaftigkeit“ des Songs zu unterstreichen, wird diese von Tennant und Lowe sabotiert. (…) Was Tennant und Lowe über Bord werfen, ist der Überbau, der den Song im Dienste einer der Authentizität verpflichteten Botschaft zu vermeintlich mehr machen soll als eben nur einen Pop-Song.“

Heißt: Am Ende bleibe es bitte immer Pop. Pop zwar, der teils weit über sich selbst hinausverweist – woher Tennant sich seine versteckten Zitate holt, selbst in scheinbar seichten Stücken wie „DJ Culture“, ist ein Vergnügen zu lesen). Der aber dabei nicht seine Contenance und Tanzbodenhaftung verliert. Sie sind eben die Pop Kids. Für Jäger sind die Pet Shop Boys eine Band, die „Popmusik genug respektiert, um zu verstehen, dass sie dann am besten funktioniert, wenn sie Gefallen an einer Respektlosigkeit findet, die auch vor sich selbst nicht Halt macht.“ Schöner Schlusssatz eines lesenswerten Buchs.

„Factually“ ist im Ventil Verlag erschienen, hat 160 Seiten und kostet 14 Euro.

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