Sach- und Fachgeschichten, heute: mit Jonas Schaibles „Demokratie im Feuer“Wehr Demokratie wagen

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Wie hängen Klimakrise und Demokratie zusammen? Jonas Schaible führt aus, wie das eine nicht ohne das andere denkbar ist. Und weil sich das Klima dramatisch verändern wird, auch unsere Gesellschaftsform nicht mehr so sein wird wie bisher. By design or by desaster: das haben wir noch in der Hand. Jan-Peter Wulf stellt das Buch vor.

Das zentrale Wort des Buches lautet Misanthropozän: ein Erdzeitalter also, in dem der Mensch nicht nur, wie im Anthropozän, geophysikalischen Einfluss auf den Planeten hat – kürzlich wurde bekannt, dass die „anthropogone Masse“, also alles, was wir erbaut, produziert und weggeworfen haben, mehr wiegt als die gesamte Biomasse. Sondern eines, in dem sich unsere Einwirkung auf das Erdsystem derart nachteilhaft auswirkt, dass die Menschen zu ihrem eigenen globalen Problem werden, sie sich (wir uns) selbst unsere Existenz zerstören. Dort sind wir noch nicht, findet Autor Jonas Schaible. Aber wir sind auf direktem Wege dorthin und, das ist das Thema seines Buches, mit der fortschreitenden bzw. akzelerierenden Klimakrise vernichten wir auch die Demokratie. Wir müssen beides retten oder anders gesagt: Wir werden die Demokratie nur behalten und nicht in eine wie auch immer ausgestaltete Form von Totalitarismus geraten (es gibt z.B. das Denkmodell des „Klima-Leviathan“, ebenso des „Klima-Mao“), wenn wir die klimatischen Verschlechterungen deutlich abbremsen. Binse? Nun ja. Schauen wir uns doch einfach mal um. In den Leserbriefen der Regionalblätter. In den sozialen Netzwerken, wenn es um Klima-Aktivismus geht – als trete der nicht für unser aller Wohl ein – oder wenn die Bildzeitung mal wieder eine populistische Alliteration abdruckt. Meinungsfreiheit? Pluralismus? Ja. Bringt sie uns etwas hinsichtlich Paris, 1,5 Grad? Entscheiden Sie selbst.

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„Demokratie im Feuer – Warum wir die Freiheit nur bewahren, wenn wir das Klima retten – und umgekehrt“ von Jonas Schaible ist 2023 bei DVA erschienen, hat 304 Seiten und kostet 22 Euro.

Unser bisheriges moderates Klima sei die Voraussetzung für die liberale Demokratie unseres aktuellen Zuschnitts, so Schaible. Eine Naturkontrolle, wie wir sie derzeit noch betreiben, sei nur durch eine entsprechend vorhandene Natur denkbar. Doch was, wenn sie, um mit David Wallace-Wells zu sprechen, in den Krieg gegen uns zieht? Wir werden bis 2100 bei über zwei Grad Erderhitzung ankommen. Es ist Frühling des Jahres 2023, und es wird vermutlich wieder eines der wärmsten, trockensten und zugleich überschwemmendsten Jahre aller Zeiten gewesen sein, wenn es vorbei ist. Wir werden uns kaum an das Tempo gewöhnen können, mit der das Misanthropozän zu uns kommt, so Schaible. Nichtlinearitäten haben wir durch eine Pandemie nun zwar einmal erlebt, aber verstanden? Kann eine liberale Demokratie die steigenden Kosten, die zur Bewältigung kurzfristiger und immer drastisch werdender Krisen aufgerufen werden, überhaupt entrichten? Und ist sie, so wie sie konstituiert ist, das Fahren stets auf Sicht/Wiederwahl betreibt, wirklich in der Lage, die Klimakrise als Problem stets zu priorisieren?

Man bedenke: Für Rechte benachteiligter Gruppen könnte man gegebenenfalls auch später noch eintreten (auch wenn das natürlich großer Mist ist). Oder den Mindestlohn erhöhen. Klima-Aktivismus hat eine eingebaute Deadline: Irgendwann hat er, auch wenn wir diesen Zeitpunkt nicht kennen mögen, keinen Sinn mehr. Aber wie erklärt man das der schäumenden PKW-Pendlerin, die sich fixiert habende LG-Aktivist*innen auf der Puschkinallee anschreit? Klimaschutz ist schon jetzt eine Art Kulturkampf geworden, stellt der Autor fest. Das Lastenrad als Kollektivsymbol für urbane Hochnäsigkeit, das geländegängige, groß dimensionierte Kraftfahrzeug als Kollektivsymbol für Egoismus (und einen zu klein geratenen Pimmel). Dabei ist die ganze Krise nicht kulturell oder politisch determiniert, sondern physikalisch – es ist noch so viel CO2 übrig, fertig. Daran gibt es nichts zu interpretieren.

Schaibles Vorschlag für eine Demokratie in Zeiten der Klimakrise nennt Schaible eine „wehrhafte Klimademokratie“. Sie muss für Freiheit gehaltene Gewohnheiten überwinden. Sie muss Einschränkungen vornehmen. Verhaltensänderungen forcieren. Und sie muss entscheiden, denn für Revisionen, Anhörungen verschiedener Interessen, Abwägen und so weiter fehlt die Zeit. Der Autor rezeptiert eine massive Medikation: Es muss nun alles gleichzeitig passieren, alles muss ausprobiert werden, in der Hoffnung, dass etwas wirkt. Er rät zu einem „nationalen Klimadienst“, einer ehrenamtlichen Tätigkeit für den Klimaschutz, aber auch zu einer Bahn-Infrastruktur, die die zukünftigen Bedürfnisse (deutlich mehr Gäste) und Unwägbarkeiten (Regengüsse, Hitzewellen) einplant, und findet es gut, wenn Flüsse wie in Neuseeland sozusagen zu natürlichen Personen mit Rechten erhoben werden.

Die Stärke des Buches liegt in seiner Engführung der Entwicklungen: Mehr Klimakrise, mehr Demokratiekrise und vice versa. Es mangelt ihm indes an einem facettenreichen Bild, wie eine wehrhafte Demokratie, sagen wir 2050 aussehen könnte bzw. sollte. Mit der Aussage, dass Demokratien sich schon immer weiterentwickelt und verändert, ihren Epochen angepasst haben, baut Schaible dafür eigentlich eine gute Basis und natürlich ist er kein Hellseher. Aber es würde in seinem Buch einen Kreis schließen, beginnt es doch mit einem Blick gen 2050, wo alles zwar schlimmer, aber nicht katastrophal ist, die Menschen sich mit der neuen Normalität arrangiert haben – viele kennen es ja gar nicht anders. Genau hier könnte Schaible wieder ansetzen und ausformulieren, was „wehrhaft“ im Alltag bedeutet.

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