Hier und DrübenWie denkt der Jahrgang 1989 über die Wende? Zwei Berichte: aus Ost und West

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Glienicker Brücke, die die Städte Potsdam und Berlin verbindet am 11. November 1989.

Unsere Autoren Susann Massute und Benedikt Bentler wurden beide Ende des Jahres 1989 in Deutschland geboren. Die eine in Brandenburg, der andere in Salzkotten in der Nähe von Paderborn. Sogenannte Wendekinder in einem vereinten Land. Wie haben sie während ihrer Kindheit die Wende wahrgenommen? Welche Rolle spielte sie im Laufe ihres Lebens? Ihre persönlichen Berichte zeigen, dass in den Gegenden, in denen beide aufwuchsen, das alles sehr unterschiedlich wahrgenommen wurde. Über Definitionen von „Drüben“, leiernde Plattenspieler und Trabis, die nur am Sonntag zu sehen waren.

Glienicker Brücke

von Susann Massute

Ich erzähle gern die Geschichte, wie ich 1989 fast Hamburgerin, „Westdeutsche“ geworden wäre. Meine Mutter durfte hochschwanger im Oktober 1989 nach Hamburg fahren, um den 50. Geburtstag ihrer Tante zu feiern. Dass der Ausreiseantrag genehmigt wurde, überraschte sie trotz der damaligen Unruhen sehr. Tatsächlich war es so, dass sie und viele ihrer Freunde glaubten, die kurze Reisefreizügigkeit gen Westen könne nicht von Dauer sein. Bestimmt würde die DDR bald wieder dicht gemacht. Vor der Abfahrt nach Hamburg beschwor mein Vater sie daher noch, bloß „drüben“ zu bleiben, er käme nach. Über den „offenen Zaun“ in Ungarn, so hatte es auch ein Freund getan. Für meine Mutter war es die erste Reise in den Westen und als sie in Güstrow in den Zug stieg, wusste sie schon, dass sie nicht drüben bleiben würde. Drüben gab es kein schon eingerichtetes Heim fürs ungeborene Kind. So reiste sie zurück, meinem enttäuschten Vater entgegen. Was einen Monat später geschah, ist Geschichte.

Am 11. November 1989 fuhren meine Eltern mit dem Trabant bis zur Glienicker Brücke, stellten ihr Auto dort vor der Mauer ab und wollten nach Westberlin laufen. Man hatte ja wenig Vorstellung von der Beschaffenheit dieser großen Stadt. Ein mitleidiger Autofahrer nahm die zwei bis zur U-Bahnstation Krumme Lanke mit und so erreichten sie ihre geflohenen Freunde in der Lietzenburger Straße nicht weit vom Kurfürstendamm. Vielleicht wäre ich auch fast Westberlinerin geworden. Ich erzähle die Geschichte nicht nur deshalb so gern, weil ich wohl weniger bedauernde Blicke ernten würde, wenn ich sagen würde „Ich bin Hamburgerin/Berlinerin“ statt „Ich bin aus Brandenburg“. Sie zeigt vielmehr, dass der Geburtsort sehr willkürlich sein kann und wir dennoch dazu neigen, unsere Herkunft herrlich aufzuladen. Wir sprechen gern von unseren Wurzeln. Im Gegensatz zum befremdlichen „Ich bin Deutsche/r“ sagt sich aber gern „Ick bin Berliner“. Schwabe, ausm Pott, ’nen Ostfriese. Und heute am befremdlichsten „Ich bin Ossi/Wessi“.

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Kein GPS: Der Vater von Susann fragt kurz nach Mauerfall nach dem richtigen Weg nach West-Berlin.

In diesem Jahr jährt sich der Mauerfall zum 25. Mal. Ich werde im Dezember 25 Jahre alt. Da ist erstmal kein Zusammenhang, nur eine gleiche Zahl. Was kann ich schon über die DDR sagen, außer vielleicht, dass es komisch ist, aus einem Land zu kommen, das nicht mehr existiert? Es ist nicht so, dass mir Hammer und Sichel auf meiner Geburtsurkunde gänzlich egal sind. Im Gegenteil. Ich höre gern diese ganz persönlichen Wendeerfahrungen. Ich will ja auch wissen, wie es war. Die blauen FDJ-Blusen tragen. Verbotene Bücher lesen. Das Feiern, das Tanzen. Der Mangel an Genuss und Freiheit. Der Humor. Ich bin froh, dass ich diese Fragen stellen kann. All die Einblicke aus Kunst, Film, Literatur und Musik, die in den letzten 10 Jahren immer mehr geworden sind, bieten jedem, der nicht diese Fragen stellen kann, ein mittlerweile nicht mehr ganz so einseitiges, tristes Bild der DDR und zeigen dennoch ganz schmerzhaft auf, was es hieß, in einer Diktatur zu leben. Nun, 25 Jahre später, häufen sich die Artikel in den Zeitungen und Magazinen, die Kommentarfelder darunter füllen sich ärgerlich und ich werde den Eindruck nicht los, dass es in der albernen, fast feindlichen Die-drüben-wir-hier-Haltung für viele Menschen noch sehr bequem ist.

„Drüben“. Das ist eh so ein Wort, was sich aus den Erzählungen meiner Familie in mein kindliches Gedächtnis einbrannte. Es gab an besonderen Tagen Kaffee von drüben. Ein Freund hatte es geschafft, „rüberzumachen“. Und wer Familie drüben hatte, Westverwandtschaft, der hatte großes Glück. Oder aber auch die traurige Gewissheit einen Teil der Lieben kaum oder gar nicht mehr zu sehen. Ich kenne viele tragische Familienschicksale, die sich zu DDR-Zeiten, vor allem aber danach ereigneten. Meinem Vater selbst war die Republik immer viel zu klein und eng, die Möglichkeiten zu wenig und das Verlangen nach Ferne, Genuss und Freiheit allzu groß. Es ist jenes Verlangen, das ihn dann in der plötzlich weiten Welt beständig in den Abgrund trieb und ich ihn letztendlich viel zu früh begraben musste. All diese Geschichte müssen erzählt werden und das wurden, werden sie auch. Die letzten 50 Jahre haben Spuren hinterlassen, ob im kleinen, privaten oder im großen, gesellschaftlichen Umfeld. Der Fall der Mauer und die deutsche Einigung sind unter dem Strich eine der größten Glücksfälle europäischer Geschichte. Umso irritierender sind für mich diese rückwärts gewandten Gleichaltrigen, die sich „stolz“ auf der einen oder anderen Seite verorten.

Ich bin Gestalterin. Ein Beruf, der gern mal verächtlich als Pixelschubsen bezeichnet wird. Allerdings auch einer, den Beat Schneider „Weltenentwerfer“ nennt. Und behauptet, dass wir unter diesem Gesichtspunkt – das Gestalten der Welt – letztendlich alle GestalterInnen sind. Ich glaube daran. Es ist zutiefst menschlich, die Welt, in die wir geworfen sind, weiter zu ent-werfen. Dabei liegt es an jedem selbst, ob Bestehendes reproduziert oder Neues gedacht wird. So verhält es sich auch mit der Mauer, die dieses Land einmal teilte. Ich kann ihre Gedenkstätte an der Bernauer Straße betrachten und die Menschen, die ich kenne, auf die eine oder andere Seite stellen. Viel schöner ist es jedoch, mit einer Selbstverständlichkeit diese Straße zu überqueren und zu wissen, dass es einmal eine Grenze gab. Eine Grenze, die vor allem die Älteren kulturell und gesellschaftlich prägte, aber die dennoch ein territoriales, vergangenes Konstrukt ist.

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Es fällt schwer loszulassen. Mein Plattenspieler, der leider nicht gut klingt und auch ein Stück zu langsam läuft, ist der, den mein Vater vom Begrüßungsgeld kaufte. Ich kann mir nicht vorstellen, einen neuen, guten hinzustellen. Alles, was den Tod ereilt, ob Systeme, Beziehungen, Menschen, neigt dazu, geweiht zu werden. Ich verstehe das gut. Allerdings ist es nur hilfreich und pragmatisch sich auf das Lebende zu konzentrieren. Zumal die Erinnerung allzu gern verklärende Streiche spielt. Denn was kann ich schon über Grenzen sagen? Andere können das. Meine Großmutter, die mit ihrer Familie zu den vielen Vertriebenen aus Pommern zählt. Meine Eltern als ehemalige DDR-Bürger. Und so schäme ich mich, für all die Gleichaltrigen, die noch so felsenfest „Ossi“ und „Wessi“ sagen. Was wisst ihr denn schon? Am Ende seid ihr doch zumeist privilegierte, gut ausgebildete Europäer, ausgestattet mit einem Pass, der euch in unzählige Länder dieses Planeten reisen lässt.

Trabis nur am Sonntag

von Benedikt Bentler

Geboren im November 1989, bin ich rein zeitlich betrachtet der Inbegriff des Wendekindes. Aber eigentlich auch nicht, denn um ehrlich zu sein, hatte ich mit der Wende nichts am Hut. Der Osten, aus dem ich komme, nennt sich Ostwestfalen. Und in OWL wird nicht zwischen Ossi und Wessi unterschieden, sondern zwischen Rheinländer, Ruhrpottler, Münsterländer und Ostwestfale. Sieht man also von diesen keineswegs irrelevanten, aber doch nur regionalen Unterschieden ab, bin ich in einem geeinten Deutschland aufgewachsen.
Meine Eltern waren zur Zeit des Mauerfalls hauptsächlich mit mir beschäftigt. Acht Tage nach meiner Geburt war der Mauerfall für sie vor allem ein TV-Event. Nur am Wochenende fanden die Trabanten ihren Weg bis ins Paderborner Umland: Am Sonntag fuhren die Menschen vom Westen in den Osten, die Menschen aus dem Osten in den Westen. Doch bis ich so alt war, um davon etwas mitzubekommen, war der Ost-West-Wochenend-Tourismus lange wieder vorbei.

Zwar bekam ich im Laufe der Jahre eine Idee davon, dass in der DDR vieles anders war und ich begann mich auch für das politische System und die Hintergründe zu interessieren, doch selbst in der Schule war die deutsche Teilung nie wirklich Thema. Der Grund dafür: Das Fach Geschichte mitsamt den zugehörigen Büchern ist chronologisch aufgebaut. Die Nachkriegszeit ist in jedem Geschichtsbuch das letzte Kapitel. Leider kamen wir mit dem Stoff nie soweit, das Schuljahr reichte immer nur bis zum zweiten Weltkrieg. Das war bei jedem Durchlauf so, in der fünften bis zehnten Klasse ebenso wie in der Oberstufe. Da ich Geschichte nicht als Abiturfach hatte, spielte es für den Lehrer auch keine Rolle.
Die erste bewusste und konkrete Vorstellung davon, wie es im Osten ausgesehen haben musste, bekam ich durch den Film „Goodbye Lenin“. Fast traurig, im Nachhinein betrachtet, aber so war es nun mal.

Es gab und gibt keine Verwandten im Osten, die gesamte Familie kommt aus dem Kreis Paderborn und ist dort größtenteils bis heute ansässig. Bis ich einen Bekannten hatte, der selbst in der DDR aufgewachsen war, dauerte es einige weitere Jahre. Ich weiß noch ziemlich genau, dass ich wie gebannt an seinen Lippen hing, wenn er erzählte: Er hatte eine Ausbildung zum Autoschlosser gemacht, ein Job, mit dem man in der DDR reich werden konnte. 30.000 DDR-Mark hatte er hinter einem losen Stein im Mauerwerk deponiert, durch Schwarzarbeit verdient. Trabis gingen anscheinend häufiger kaputt. Er war auch der erste, der mich als „Wessi“ bezeichnete. Fast 20 Jahre meines Lebens hat es also gedauert, bis ich mit meiner westdeutschen Herkunft konfrontiert wurde. Nee, stimmt gar nicht: Bei einem regelmäßigen Ferienjob während der Schulzeit hatte ich bereits einen Arbeitskollegen jenseits der 50, der - soweit ich mich erinnere - aus Halberstadt kam. DDR war aber nur Randthema, er war ein netter Typ mit amüsantem Akzent, ich noch ein Teenie. Bezeichnend jedenfalls, dass sich meine Ost-West-Situationen bis zum Beginn des Erwachsenenalters an zwei Händen abzählen lassen.
Das von Susann beschriebene „drüben“, das gab es bei uns nicht. „Drüben“ impliziert ja auch eine örtliche Nähe zu Grenze, Zaun oder Mauer. Von „drüben“ heißt für mich immer noch: aus Nachbars Garten. Dass damit auch „aus der DDR“ gemeint sein kann, musste ich erst hier in Berlin lernen.

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