Die Amerikanische Kritik oder googeln wir uns zu Tode?Understanding Digital Capitalism | Teil 10

Die Amerikanische Kritik oder googeln wir uns zu Tode? UDC StartIllu

Die meisten digitalen Innovationen und die sie begleitenden Glücksversprechen kommen aus den USA, oft aus dem verhältnismäßig winzigen Silizium-Tal in Nord-Kalifornien. Ein Großteil der Literatur über Google und Co. ebenfalls.

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Klaus Staeck: Die vier apokalyptischen Reiter | Quelle

Vermeintliche Insider, enttäuschte Ehemalige und Journalisten aus dem Dunstkreis der „ruling class of the digital world“ (Marcel Marss) bearbeiten verschiedenste Aspekte der Digital-Ökonomie. Es gibt mehr oder weniger einfältige Ratgeber für erfolgreiches Online-Business (Peter Theil: „Zero to One“), mehr oder weniger bewundernde Unternehmens-Geschichten (Steven Levy: „In the Plex“) und eher technisch Orientiertes (John Battelle: „Search“). Auch der eine oder andere Europäer schreibt beeindruckt einen Reisebericht aus dem Tal der digitale Verheißungen (Christoph Keese: „Silicon Valley“). Wie sieht es mit kritischen Stimmen aus? Was hat sich seit Barbrooks und Camerons „Californian Ideology“ von 1996, dem Gründungsdokument der Kalifornischen Ideologiekritik, getan? Auch hier überwiegen amerikanische Autoren. Exemplarisch werden hier drei zeitgenössische „Internet-Kritiker“ vorgestellt, die auch in Deutschland einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben: Andrew Keen, Evgeny Morozov und Jaron Lanier und werden ihrerseits einer kritischen Revision unterzogen.

##Andrew Keen – der Silicon Valley Bully
Andrew Keen ist ein Silicon-Valley-Urgestein, Gründer und Medienunternehmer. Bekannt wurde er 2007 mit einer pauschalen Kritik an partizipativen Inhalten im Netz, die ihm zufolge zu einer Umsonst-, Selbstbedienungs- und Selbstdarstellungs-Kultur führen: „The Cult of the Amateur“ (deutsch: „Die Stunde der Stümper“, Original 2007, deutsch 2008).

In seinem aktuellen Buch „The Internet is Not the Answer“ wendet er sich explizit dem Silicon Valley zu. Er prangert den digitalen Libertarismus an, der das Netz beherrsche und dem es gelinge, seine Ideologie des perfekten Marktes zu propagieren und dabei Misstrauen gegen jegliche Kontrolle und staatliche Regulierung zu schüren. Keen sieht drei Hauptprobleme der digitalen Revolution: Zunächst habe sie Monopole wie Google und Amazon geschaffen und soziale Ungleichheiten verschärft. Was zu einer Art „Donut-Gesellschaft“ geführt habe – in der Mitte sei ein Loch entstanden, die Mittelschicht verschwinde. Zudem zerstöre das Internet alte Berufe, ohne dass es neue schaffe.

„Immer größere Teile der Mittelklasse brechen weg, und wir sehen die Entwicklung eines Arbeitsmarktes, in dem es eine kleine Elite von "Digital Masters" gibt und daneben ein Lumpenproletariat, das die Computer wartet, und nicht viel dazwischen.“

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Andrew Keen | Foto: Brian Solis via Flickr (CC)

Wie schon in seinem vorigen Buch sieht er eine weitere Gefahr in der „Datenökonomie, die auf kostenlosen Inhalten basiert. Denn der Kunde bezahlt die Leistungen der Konzerne vor allem mit seinen Daten. Aber wenn wir so denken, werden wir vom selbstbestimmten Konsumenten zum Produkt.“ (Interview, Süddeutsche Zeitung, 21/22. Februar 2015)

Die Digitalisierung der Musikindustrie, die zunehmende Verbreitung und Verfügbarkeit von Online-Content und das Aufkommen von Online- und Streaming-Plattformen führe „zu einem dramatischen Missverhältnis zwischen dem massivem Erfolg einiger weniger Hits und dem Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit des übergroßen Rests“, schreibt er. Die „One-Percent-Rule“ manifestiere sich hier, die Superstar-Ökonomie spitze sich noch zu: 1% der Künstler, die 2013 mit aufgezeichneter Musik Geld verdient haben, konnten 77% des Umsatzes auf sich vereinen, während die restlichen 99% unter dem ‚long tail‘ verschwanden“. Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Musikbusiness seien enttäuscht worden.

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##Radio Free Internet – Über Jevgeni Morozov
Der aus Weißrussland stammende Morozov gilt als Spezialist für Netz-Politik und ist einer der schärfsten Kritiker von Überwachung, autoritären Tendenzen und eines naiven Glaubens an die demokratisierende Wirkung digitaler Technologien: Internet-Centricism und Cyber-Utopianism sind seine größten Feinde. Den Illusionen über die befreienden Auswirkungen von Technologie setzt er entgegen:

„From the railways, which Karl Marx believed would dissolve India’s cast system, to television, that great liberator of the masses, there has hardly appeared a technology that wasn’t praised for its ability to raise the level of public debate, introduce more transparency into politics, reduce nationalism, and transport us to the mythical global village“.

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photo credit: EvgeniyMorozov via photopin (license)

Radio Free Europe beglückte einst die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs mit westlicher Propaganda. Heute falle diese Funktion, Meinungsfreiheit und Demokratie weltweit zu verbreiten, dem Internet zu, so Morozov. Nirgends sonst habe sich die Vorstellung gehalten, der zufolge ein Medium „automatisch dazu beiträgt, dass Mauern fallen, Demokratie und Meinungsfreiheit gestärkt wird und das gegen Überwachung, Propaganda und Zensur hilft“.

Demgegenüber stellt er fest, dass einerseits autoritäre Regime wie z.B. im Iran und in China wunderbar mit dem Internet zurechtkommen. Diese Regime nutzen die gleichen Kanäle wie die Opposition, allerdings für Desinformation, Propaganda, Überwachung und Kontrolle von Online-Aktivistinnen und -Aktivisten. Die Rolle von Facebook bei der Revolution in Ägypten oder die von Twitter im Iran sieht er sehr skeptisch. Er hält die sozialen Medien eher für einen Begleitumstand und geißelt die westliche Darstellung von deren Bedeutung als völlig überzogen. So wurde 2010 die vom Marokkaner Kacem El Ghazzali ins Leben gerufene Facebook-Gruppe „Jugend für die Trennung von Religion und Bildung“ mit über tausend Mitgliedern sang- und klanglos abgeschaltet – von Facebook selbst. Nach einer internationalen Kampagne wurde die Gruppe wiederhergestellt, doch es gibt bis heute keine Erklärung von Facebook zu den Vorgängen.

Auch in westlichen Ländern gibt es Besorgnis erregende Entwicklungen, z.B. die Zensur von anstößigen Inhalten im Apple Store, das Zensieren oder Verschwinden von Facebook-Gruppen und Twitter-Accounts aus politischen Gründen. In diesem Zusammenhang erwähnt Morovov die Drohung von Englands Premier David Cameron, während der Unruhen in London im August 2011 Facebook und Twitter zu sperren. Morozov macht sich an anderer Stelle darüber lustig, dass das Internet schließlich eine Waffe sei:

„What would you expect of an AK-47 in the hand of everyone: democratizing, lowering hierarchies?“

Jaron Lanier – Shouldn’t we get paid?

Der Kalifornier Jaron Lanier ist im letzten Jahr einem breiteren Publikum in Deutschland bekannt geworden, als ihm überraschend der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Die Auswahl des Laureaten lag vermutlich auch an einem Missverständnis über den Begriff Virtual Reality – Lanier gilt als Pionier der gleichnamigen Technik – und an seiner dem Verlagswesen genehmen Haltung zum Urheberrecht.

Laniers Thema ist die Digitalisierung der Wirtschaft. So, wie sie sich bislang entwickelt habe, zerstöre sie die amerikanische Mittelschicht:

„Das größte Problem für unsere Gesellschaft sind nicht die Daten selbst, das größte Problem sind die Arbeitsplätze, die durch die technische Revolution wegrationalisiert werden.“

In seinem 2013 erschienen Buch „Who Owns the Future?“ führt er ein oft zitiertes Beispiel an: „Die Firma Kodak beschäftigte zu Hochzeiten in den 70ern 140.000 Menschen und hatte einen Wert von 28 Milliarden US-Dollar. Sie haben sogar die Digitalkamera erfunden. Heute ist Kodak pleite, der Netzfotodienst Instagram steht für digitale Photographie. Als Instagram 2012 für eine Milliarde Dollar an Facebook verkauft wurde, arbeiteten gerade mal 13 Leute dort.“ Ähnlich wie Keren sieht er die gleichen Mechanismen in der Musikindustrie, im Journalismus und auf dem Buchmarkt am Werk.

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Lanier sieht eine große Gefahr in der Macht von Plattformen wie Google und Facebook. Für diese digitalen Mediatoren hat er den poetischen Begriff siren servers geprägt: Ein siren server ist ihm zufolge ein elitärer Server in einem Netzwerk, der durch Narzissmus, übersteigerte Risikovermeidungsstrategien und extreme Informations-Asymmetrie gekennzeichnet ist. Die Plattformen bieten zwar kostenlos Dienste an, agieren aber despotisch, gestalten und verändern ihre Dienste ständig nach Gutdünken, und sind keinerlei demokratischer Kontrolle unterworfen. Durch überzogene end user licence agreements (Nutzungsvereinbarungen, EULAs) verweigern sie jegliche Verantwortung für Inhalte und Folgen ihrer Dienstleistungen. Schließlich entstehe durch das Sammeln von User-Daten eine Situation, in der der siren server viel mehr weiß, als die User. So kann Amazon Kunden, die z.B. Mac-User sind, einen höheren Preis abverlangen ohne dass der Einzelne das mitbekommt.

Shouldn’t we get paid? Sollten wir nicht für unsere Daten bezahlt werden? Wenn unser Profil bei Facebook 100 Dollar wert ist, was haben wir davon? Lanier stellt diese Fragen und schlägt ein weltweites Mikro-Bezahlsystem vor, von dem jeder Nutzer, der Inhalte liefert, profitieren könnte. Jede Online-Aktivität sollte entsprechend ihres „degree of contribution and the resultant value“ bezahlt werden. Online-Übersetzungs-Dienste etwa beruhen auf dem Datenpool von existierenden Übersetzungen, die diesen Service immer weiter verbessern. Übersetzer seien immer weniger gefragt, sie könnten zusätzlich vergütet werden, sobald ihre Übersetzungen von Algorithmen verwendet werden.

Das erinnert doch an Amazons Vorschlag, Autorinnen und Autoren seitenweise zu vergüten! Und auch die Streaming-Dienste für Musik erlauben ja eine nie gekannte Einzelabrechnung pro Anhörvorgang – siren servers at their best. Könnte Laniers Konzept der micro-payments immer kleinteiliger durchgeführte Verwertungs- und Bezahl-Vorgänge und dadurch noch mehr Abhängigkeit von den Plattformen bewirken?

##Das Aussterben der gehobenen Mittelklasse
Keen, Mozorov, Lanier: Die drei Autoren kritisieren auf erfrischende Weise und mit einer Menge Fakten den Digitalen Kapitalismus. Sie prangern Monopolisierung und Konzentration des Reichtums in den Händen weniger an. Sie legen dar, dass Technologien nicht automatisch zu mehr Demokratie, Offenheit, Freiheit und Wohlstand führen. Aber treffen diese Kritiken wirklich den Digitalen Kapitalismus – oder sind das nicht vielmehr Grundzüge des Kapitalismus überhaupt?

Die ungleiche Verteilung von Reichtum ist nicht erst durch das Silicon Valley in die Welt gekommen, die Geschichte des Kapitalismus ist eine von Raub, Krieg, Appropriation, Kolonialismus – sie sind geradezu Wesensmerkmale des Kapitalismus. Es scheint, als würde der Digitale Kapitalismus vom Standpunkt eines idealisierten vor-digitalen Kapitalismus kritisiert, in dem Arbeit bezahlt wurde, Urheberrechte respektiert wurden und die Mittelklasse sich ein Auto leisten konnte.

„The more we use the contemporary digital network, the less economic value it brings to us.“ Andrew Keen.

Wer ist wir? Franz Josef Degenhardt hat auf seiner 1988 erschienen Live-Platte einmal die FAZ zitiert, die süffisant berichtet hatte, dass sich 61% der Bundesbürger zur gehobenen Mittelklasse zählen würden. Das Aussterben der Mittelklasse – gehoben oder nicht – und des damit verbundenen Lebensmodells Suburbia: Hat das nicht auch etwas Gutes? Und spendet ein Kapitalismus, der wenigstens kostenlose Services anbietet, nicht Trost für die Armen, auch wenn sie dafür ihre Daten hergeben müssen?

Insbesondere amerikanische Autoren möchten unbedingt den Eindruck vermeiden, socialists zu sein. Für Steuererhöhungen oder Krankenversicherung einzutreten reicht mitunter schon, um in diese Kategorie zu geraten. So traut sich auch keiner der drei Autoren an eine Kritik, die über Auswüchse des platform capitalism hinausgingen. Ihre Rezepturen sind weitgehend rückwärtsgewandt und konservativ: Aufrechterhaltung der Logik der Verknappung, Stützung eines restriktives Urheberrechts, Festhalten an Bezahlmodellen für digitalen Content bis hin zu kulturpessimistischen Medienkritik à la Neil Postman („Wir amüsieren uns zu Tode“).

Der kostenlose Zugang zu Information wird so zur Geißel, zum Problem, dem mit konservativen Rezepten entgegengetreten wird. Wenn alles kostenlos ist, kann keiner mehr was verdienen – logisch. Liegt darin nicht auch eine Chance? Dann muss auch keiner mehr was verdienen.

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Quellen/Links
Marcell Mars: Ruling Class Studies (Research proposal)
Peter Theil, Zero to One. Notes on Startups, or How to Build the Future, New York 2014
Stephen Levy: In the Plex. How Google Thinks, Works and Shapes Our Lives. New York, 2011
John Battelle: The Search. New York, 2005
Christoph Keese: Silicon Valley, München 2014
Andrew Keen: The Cult of the Amateur, New York 2007. Deutsch: Die Stunde der Stümper, 2008
Andrew Keen: The Internet is not the answer, New York 2015. Deutsch: Das digitale Debakel: Warum das Internet gescheitert ist – und wie wir es retten können. München 2015
Evgeny Morozov: The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom. New York 2011
Jaron Lanier: Who Owns the Future? London 2013. Deutsch: Wem gehört die Zukunft? Hamburg 2013
Sascha Lobo: S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine: Auf dem Weg in die Dumpinghölle
Franz-Josef Degenhardt: Ballade vom verlorenen Sohn, 1988

Zur Übersicht aller Texte der Reihe »Understanding Digital Capitalism«.

Timo Daum arbeitet als Dozent in den Bereichen Online, Medien und Digitale Ökonomie. Zum Thema Understanding Digital Capitalism fand vor einiger Zeit eine Veranstaltungsreihe in Berlin statt.

Leseliste: 12. Juli 2015 - andere Medien, andere ThemenAlain Badiou, der gehackte Hafen, Onlinejournalismus (wieder mal) am Arsch und Hipgnosis

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