Und täglich grüßt der AußenseiterFilmkritik: „Die Insel der besonderen Kinder“ von Tim Burton

Titel Miss

Alle Fotos: © 2016 Twentieth Century Fox

In einem Gastbeitrag für Das Filter schreibt Patrick Blümel, einer der deutschen Co-Kuratoren der gefeierten Ausstellungen „The World of Tim Burton“, über den neuen Film des US-amerikanischen Star-Regisseurs.

Tim Burtons neuer Film Die Insel der besonderen Kinder lädt zur Zeitreise ein: für mich im doppelten Sinne! Proklamierte der Hase in seinem Kassenschlager Alice im Wunderland noch keine Zeit zu haben, so liegt im neuen Blockbuster des verkannten Disney-Zeichners aus dem kalifornischen Burbank jegliche Kontrolle über diese in den Händen sogenannter Ymbrynen. Dies sind Frauen, die die Zeit zurücksetzen und somit eine Zeitschleife erzeugen können, in denen sie und jeder, der sich ebenfalls darin befindet, niemals altert. Man ist unweigerlich an den Film Und täglich grüßt das Murmeltier von 1993 oder die Akte X-Folge „Montag“ erinnert. Dort erleben die Hauptfiguren immer wieder denselben Tag – sei es nun bewusst oder unbewusst. In Burtons Film geschieht dies jedoch nicht, um die Figuren auf den richtigen Pfad zu führen, als ein Prozess des Lernens und sich Verbesserns, sondern um ein Refugium für eine Gruppe von übernatürlich begabten Kindern zu schaffen, einen Ort außerhalb der Zeit, an dem sie vor vermeintlich böswilligen Schurken geschützt ist. Man denke an Xaviers Schule für begabte Jugendliche aus dem X-Men-Universum.

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Der metallische Beigeschmack des Abgekupferten

Der Film, oder sollte man sagen die Buchvorlage, ist gespickt mit solchen popkulturellen Zitaten und wirkt wie eine Melange aus vielem, das man bereits gesehen oder gelesen hat.

Die Geschichte wiegt den geneigten Betrachter in einer Art wärmenden Erinnerung an Altbekanntes, gleichzeitig sind große Überraschungen und Unerwartetes leider rar.

J.J. Abrams hat mit dem Relaunch von Star Wars die Mechanismen dieses Prinzips zur Genüge durchexerziert, zurecht mit Erfolg, und dennoch mit dem metallischen Beigeschmack des Abgekupferten. Und während die Vorlage sich bewusst aus dem Pool popkultureller Ikonen bedient, spart auch Burton selber nicht mit Querverweisen auf seine eigenen Filme. So finden sich im Garten des Anwesens, in dem Miss Peregrine und ihre Kinder leben, jene in Form geschnittenen Buchsbäume wieder, die wir so gerne aus dem Film Edward mit den Scherenhände entnommen und in den eigenen Vorstadtgarten gepflanzt hätten. In einer weiteren skurrilen Szene bedient sich der Meister des Absurden sogar der veralteten und schließlich 1993 mit Nightmare before Christmas wiederbelebten Stop-Motion-Technik und lässt frankensteinartige Monsterbabies à la Toy Story auferstehen.

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Burton beweist erneut ein Händchen dafür, eine Geschichte ausfindig zu machen, die in den Kosmos passt, den er seit über 30 Jahren ausbaut.

Eine Reise ins Phantasialand

Während ich den Film im Cinedom in Köln schaue und das ewige Zurücksetzen des 3. Septembers 1943 im Film verfolge, begebe ich mich aber auch auf eine weitere, persönlichere Zeitreise. Etwas mehr als ein Jahr zuvor wurde im Max Ernst Museum im beschaulichen Brühl die Ausstellung „The World of Tim Burton“ eröffnet, an der ich als Kurator mitgearbeitet hatte. Tim Burton hatte zu diesem Zeitpunkt gerade die Dreharbeiten zum Film abgeschlossen und somit den Kopf frei, um sich der Eröffnung seiner einzigen Schau in Deutschland zu widmen. Am 13. August lief er gut aufgelegt und entspannt über das Plateau des Museums, um von Museumsdirektor Achim Sommer und mir begrüßt zu werden. Es folgten einige Tage der Aufregung mit Pressekonferenz, Book Signing, Eröffnung und sogar einem Besuch im Phantasialand (Burton ist bekanntlich ein großer Fan der Unterhaltungsparkbranche), der für mich zum surrealen Trip mit einem meiner Jugendidole werden sollte.

Einige sicherlich stressige Monate Postproduktion später läuft der Film nun in den Kinos an und ich stelle mir die Frage, ob ich ihn durch meine Erfahrungen im Rahmen der Ausstellung in einem anderen Licht sehe. Nach unzähligen Führungen und Gesprächen mit Fans haben sich bei mir gewisse Begrifflichkeiten eingebrannt, die untrennbar mit dem Werk und Leben Tim Burtons verbunden sind. An erster Stelle steht der Begriff des „missverstandenen Außenseiters“, der sich immer wieder in seinen Filmen identifizieren lässt und auch biografisch mit dem Regisseur verbunden ist.

Es sind solche Figuren wie Edward Scissorhands, Ed Wood oder Willy Wonka (allesamt von Johnny Depp gespielt), von der Gesellschaft Ausgestoßene, mit denen sich eingeschworene Fans identifizieren und die sie zu ihren Idolen erheben. Und selbstverständlich ist der neue Film keine Ausnahme.

Auch hier begleiten wir den missverstandenen Außenseiter Jacob Portman (Asa Butterfield), der sich auf die Spuren seines kürzlich verstorbenen Großvaters begibt. Im Heim von Miss Peregrine (Eva Green) findet er direkt eine ganze Riege Ebenbürtiger, die ihn zu verstehen scheinen und in deren Reihen er nicht mehr so „peculiar“, sondern fast schon allzu normal erscheint. Tim Burton beweist erneut ein Händchen dafür, eine Geschichte ausfindig zu machen, die in den Kosmos passt, den er nunmehr seit über 30 Jahren ausbaut. Zusammen mit seinem Team haucht er der Geschichte, die wie aus seiner eigenen Hand zu stammen scheint, den nötigen Burton-Touch ein. Viele Fans werden ihre wahre Freude an dem Streifen haben!

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Die meisten der viel zu vielen Charaktere werden nur oberflächlich eingeführt, um am Ende kurzzeitig mit ihren Kräften glänzen zu können.

Doch bei all dem Potenzial, das die Vorlage zu versprechen scheint, muss ich leider gestehen, dass der Funken bei mir nicht so recht überspringen will. Ähnlich wie bei seinen letzten Machwerken Dark Shadows oder Big Eyes plätschert der Film dahin und ergreift mich emotional nur selten. In einem der Highlights wirft ein Naziflugzeug über dem Waisenhaus eine Bombe ab, woraufhin Miss Peregrine ihre Fähigkeiten, die Zeit zurückdrehen zu können, auf eindrucksvolle Art und Weise demonstriert. Obwohl es Tim Burton geschickt schafft, die dichte Atmosphäre aufzubauen, in die die Geschichte eingebettet ist, verläuft sich der Film in großen Teilen in allzu vielen Nebenhandlungen, die nicht weiter verfolgt werden. Was ist aus Victor geworden? Im Film scheint es niemanden zu interessieren, im Kinossal auch nicht. Die meisten der viel zu vielen Charaktere werden nur oberflächlich eingeführt, um am Ende kurzzeitig mit ihren Kräften glänzen zu können.

Totale

Die abschließende Kampfszene verliert sich gar in völligem Chaos und man weiß nicht mehr, ob die nervige Hintergrundmusik Grund für das Missfallen ist oder die fast schon unnötige Aneinanderreihung von zusammenhangslosen Szenen. Burton frönt hier seiner großen Begeisterung für den Trashfilm der 1950er- und 60er-Jahre und setzt erneut einer der unsterblichen Ikonen des B-Movie ein Denkmal. Bereits in Filmen wie Mars Attacks! oder Corpse Bride hat er dem Stop-Motion-Experten Ray Harryhausen auf unterschiedliche Art und Weise gehuldigt. In Die Insel der besonderen Kinder lässt er nunmehr eine Armee von Skeletten auflaufen, die allerdings im Gegensatz zur Vorlage Jason und die Argonauten von 1963 den Protogonisten zur Hilfe kommen. Leider versagen in diesen Szenen die bisher gut platzierten CGI-Effekte, wodurch der Film den handgemachten Charme verliert. Einzig und allein ein Cameoauftritt Burtons, der ihn auf einem Karussell auf einer Kirmes in Blackpool für eine Millisekunde ins Bild rückt, lässt mich flüchtig lächeln. Und so schließt sich erneut der Kreis, denn ich muss daran denken, wie ich mit Burton im „Mystery Castle“ des Phantasialands sitze und dem kurzweiligen Schrecken entgegenfiebere. Auch wenn Die Insel der besonderen Kinder mich größtenteils nicht vollkommen überzeugt, muss ich gestehen, dass es ein sehr persönliches Werk ist, das zeigt, dass Tim Burton seine Filme und Geschichten wahrlich lebt. Am Ende ist der Film das Zeugnis eines Regisseurs, der seiner Besonderheit nachgegeben hat: die Fähigkeit, eine Welt für all die sonderbaren Menschen zu schaffen, die bisher nicht ihren Weg in die Zeitschleife von Miss Peregrine gefunden haben.

Die Insel der besonderen Kinder
USA 2016
Regie: Tim Burton
Drehbuch: Jane Goldman nach dem Roman von Ransom Riggs
Darsteller: Eva Green, Asa Butterfield, Chris O’Dowd, Allison Janney, Rupert Everett, Terence Stamp, Judi Dench, Samuel L. Jackson
Kamera: Bruno Delbonnel
Musik: Mike Higham & Matthew Margeson
Laufzeit: 127 min
ab dem 6.10.2016 im Kino

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