Fifty Shades Of GreyFilmkritik: „An Elephant Sitting Still“ von Hu Bo

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Wie soll man die Welt nur ertragen? Der chinesische Regisseur Hu Bo stellt die ganz existenziellen Fragen. Wer da Pathos oder gefühlsduseliges Arthouse-Kino wittert, darf beruhigt sein. „An Elephant Sitting Still“ ist ein kinematografischer Glücksfall. Anstatt die Perspektivlosigkeit seiner Figuren als aufwühlende Verkettung von Schicksalsschlägen zu erzählen, übersetzt er sie in eine eigenwillige Bildsprache. Ein Elefant als Idee, ein Film als Glasglocke – Christian Blumberg versucht nachzuzeichnen, warum hier nicht Menschen die Hoffnung schon aufgegeben haben, sondern die Kamera.

Ein Elefant als Idee. Im Zoo der nordchinesischen Stadt Manjur soll er immerzu nur dasitzen und alles Geschehen um ihn herum ignorieren. Die Figuren dieses Films wollen das gleichmütige Tier gerne mit eigenen Augen sehen, vielleicht weil es ihm gelingt, die Welt einfach zu ertragen.

Menschen, die einen solchen Elefanten zum Vorbild haben, sind notwendigerweise keine Glückskinder: „Mein Leben ist beschissen“, teilt Ling ihrer Mutter mit. Die erwidert, dass es um das ihre nicht anders bestellt sei. Ling ist Schülerin, sie hat eine Affäre mit einem ihrer Lehrer. Jemand hat die beiden mit dem Telefon gefilmt, nun will die betrogene Ehefrau Ling zur Rechenschaft ziehen. Bu ist Lings Mitschüler und vermutlich in sie verliebt. Doch für Liebesgeschichten bleibt keine Zeit. Bu hat es gewagt, sich gegen einen notorischen Schläger zu verteidigen. Es war lediglich ein Schubser, aber ein unglücklicher: Der School Bully fällt eine Treppe hinunter und wird den Sturz nicht überleben. Es war Notwehr, aber das glaubt Bu niemand, also muss Bu fliehen. Auch vor dem großen Bruder des Schlägers, Cheng. Dabei ist der selbst auf der Flucht, in erster Linie vor sich selbst. Vor seinem Dasein als Kleinkrimineller, und weil er sich für den Selbstmord eines Bekannten die Schuld gibt – Cheng hatte zuvor mit dessen Frau geschlafen. Und schließlich gibt es noch Herrn Wang. Auch er will raus aus der Stadt, denn seine Familie plant ihn ins Altersheim zu stecken. Die Wege dieser vier Figuren kreuzen sich immer wieder, bis sie schließlich an einem Bahnhof zusammenlaufen. Von hier geht der Zug nach Manjur.

Das Leiden an der Welt hat bei Hu Bo mit der romantischen Idee von Weltschmerz nur wenig gemein.

All das geschieht an einem einzigen Tag. Regisseur Hu Bo nimmt sich vier Stunden, um über die Geschichten seiner Figuren schließlich von nicht weniger als einer universalen Miserabilität des Lebens zu erzählen. Die hat ihren Ursprung immer auch im Sozialen. Politische Figurationen und Persönliches greifen in An Elephant Sitting Still stets ineinander und bilden einen Teufelskreis, der immer wieder Eruptionen der Gewalt hervorbringt und den der Film derart unaufgeregt nachzeichnet, dass man sich manchmal wünscht, er möge sich zum gesellschaftspolitischen Fanal aufschwingen. Bo aber bleibt lieber nah bei seinen Protagonist*innen. Den Umständen ergeben wollen die sich zwar nicht, aber wofür es sich überhaupt lohnt weiterzumachen, das wissen sie offensichtlich auch nicht so genau. Sie sagen daher oft Sätze, die arg nach Weltschmerzprosa klingen. Doch der lakonische Grundton des Films holt jede ihrer Gefühlswallungen verlässlich wieder ein. Das Leiden an der Welt hat bei Hu Bo mit der romantischen Idee von Weltschmerz nur wenig gemein.

Film als Glasglocke

Stattdessen induziert An Elephant Sitting Still ein Gefühl der Ohnmacht, das eher schon etwas mit Zuständen einer Depression zu tun zu haben scheint – und nutzt dafür vor allem Mittel der Bildgestaltung. Einerseits ist hier alles im Wortsinne düster: Wie schwarze Schatten laufen die Protagonist*innen durch diesen trüben, überhaupt sehr farblosen Film, in dem selbst knallrote Trainingsjacken irgendwie grau aussehen. Dazu kommt eine eigenwillige Kadrierung, die noch in den Außenaufnahmen ein Gefühl der Enge produziert: es wirkt, als sei in einen handelsüblichen Bildausschnitt nachträglich hineingezoomt worden. Den Rest besorgt eine Kamera, die sich mit Vorliebe an einzelne Figuren heftet. Minutenlang klebt sie ihnen im Nacken, wenn sie die namenlose Stadt durchstreifen, von der kaum je etwas ins Bild gerät. Diese Kameraperspektive wird nur selten aufgegeben.

Das Außen kollabiert.

In Dialogsituationen führt das dazu, dass Gesichter der Gesprächspartner*Innen abgeschnitten werden, oder sogar ganz im Off verschwinden. Und wenn etwas Entscheidendes geschieht, dann meist am Bildrand, in der Unschärfe des Hintergrundes. Dieses Klammern der Kamera schafft zwar eine Nähe zu den Figuren, etabliert aber zugleich auch eine Distanz zwischen ihnen und ihrer Umwelt. So generiert sich eine Art filmische Glasglocke: Das Außen kollabiert. Es existiert lediglich als fahler, detailarmer Bildklumpen. Das Ergebnis ist Ohnmacht: Denn wo kaum noch Außen ist, lässt sich nur schwer agieren. Die Möglichkeit, dass da draußen doch noch irgendeine glückliche Wendung warten könnte, erwägt die Kamera offenbar weniger als die Figuren selbst, zeigt sie doch kaum Interesse an deren Umwelt. Ganz nah, und doch fast teilnahmslos, so ist der ganze Film: ein alles ertragender Elefant.

Der Clue dieser filmgestalterischen Passivität liegt vielleicht darin, dass sie auf das Publikum nicht ansteckend wirkt, sondern es im Gegenteil in einen aktiven Modus zwingt. Nicht nur, weil ein inneres Nachtsichtgerät einschalten muss, wer sich in den Grauschattierungen der Bilder zurecht finden will. Der Blick muss auch stets in den unscharfen Rändern des Bildausschnitts herumstochern, wenn man handlungsentscheidende Details nicht verpassen möchte. Über vier Stunden wird dies zu einer körperlich fordernden Erfahrung. Wer sich darauf einlässt, wird das Kino erschöpft verlassen, aber auch beschenkt. Von den denkwürdigen Schlussminuten sowieso, aber auch vom Wissen, einem kinematografischen Glücksfall beigewohnt zu haben. So unwahrscheinlich es klingt: In Tonalität und Bildkomposition ist Hu Bo ein einzigartiges Filmdebüt gelungen. Die eigentliche Tragik liegt in dem Umstand, dass er seine Filmsprache nicht weiter ausformulieren wird können. Kurz nach Fertigstellung von An Elephant Sitting Still hat sich Hu Bo im Alter von 29 Jahren das Leben genommen.

An Elephant Sitting Still

China 2018
Regie: Hu Bo
Kinostart: 15.11.2018

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