„Männer wollen immer furchtbar gern wirken“Buchrezension: Jana V. Schmidt – „Arendt und die Folgen“

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Einzige Frau, wichtigste im 21. Jahrhundert, bekannteste Philosophin und überhaupt relevanter denn je. Hannah Arendt hätte über Superlative dieser Natur vermutlich nur gelacht. Von ihr können wir uns in diesen Zeiten einige Scheiben abschneiden. Jana V. Schmidt erklärt auf 132 Seiten, wie Arendt unser Denken und Handeln zu bewegen imstande ist.

Erinnert sich noch wer an die Armbänder, die man einst während der Konfirmandenzeit trug? Da stand WWJD? drauf, eine Kurzform von „What would Jesus do?“. Hätte man sich daran immer so genau gehalten, wäre die Jugend bei den allermeisten vermutlich anders abgelaufen. Wobei wir jetzt natürlich nicht so genau wissen, ob Jesus mit sechzehn nicht auch schon weinaffin gewesen war oder ob das erst in den Dreißigern kam. Interessante Frage dennoch, in den richtigen Momenten gestellt. Frage ich mich im Übrigen genauso bei wichtigen Freunden anstelle von Jesus, wenn es zu Konflikten am Arbeitsplatz kommt, bei der Mutter vorm Weinregal, beim toten Vater oder wenn ich das Gefühl habe, vom Waschmaschinen-Reparateur über den Tisch gezogen worden zu sein. Kurz und gut: Es ist hilfreich, sich ab und an in andere, vertraute Perspektiven zu denken. Das ist in vielen Gelegenheiten interessant und bringt neue Aspekte so mancher Situation ans Licht. Vor allem dann, wenn man die Antwort kennt, weil das gedachte Gegenüber sich zufälligerweise schon genau darüber einmal geäußert hat.

Im Falle von Hannah Arendt ist die Sache sogar noch spannender. Sie hatte sich nicht nur zu Gegebenheiten geäußert, die zu ihrer Zeit und besonders für die jüdisch-intellektuelle Bevölkerung von diskursiver Bedeutung war, sondern tut es auch heute. Weil sie so vorausschauend war? Weil die Geschichte sich wiederholt hat? Weil wir in unserer Art und Weise, Geschichte zu gestalten, so berechenbar sind? Wichtig ist eigentlich nur eine Antwort, und die gibt sie in ihrem Essay „Was ist Politik“, den Fragmenten aus dem Nachlass von 1993. Da sagt sie „Einsicht in einen politischen Sachverhalt heißt nichts anderes, als die größtmögliche Übersicht über die möglichen Standorte und Standpunkte, aus denen der Sachverhalt gesehen und von denen her er beurteilt werden kann, zu gewinnen und präsent zu haben.“

Jana V. Schmidt jedenfalls leistet mit ihrem Buch „Arendt und die Folgen“ einen hilfreichen Teil, eine ebensolche Einsicht in unseren gegenwärtigen Sachverhalt zu bekommen. Sie ist Dozentin an der California State University in Los Angeles und Fellow am Bard College, dem Hannah Arendt Center for Politics and Humanities. Mit der „... und die Folgen“-Reihe des J.B. Metzler Verlages werden Persönlichkeiten in Leben und Werk, vor allem aber im Blick auf ihre Wirkung vorgestellt. Recherchieren, rezitieren und zusammenfassen können die meisten Wissenschaftler. Um politische und philosophische Denkfiguren allerdings über eine akute Weltlage hinaus fruchtbar zu machen, bedarf es einer besonderen Form von dialektischem Zeitgeist.

In die Pluralität geboren

Schließlich gibt es Gründe, aus denen die Arendt Studies in den letzten zehn Jahren an Universitäten und Institutionen dermaßen florieren. Jana V. Schmidt ergründet diese in maßgeblich zwei Teilen: zum einen der Herkunft und Dynamik ihres Denkens und zum anderen der Anwendung und seiner Konsequenz im gesellschaftlichen Handeln. In einer Sprache, die wohl geisteswissenschaftliche Lektüre voraussetzt, dabei aber immer pointiert und kontextualisierend ist, erzählt Schmidt die Geschichte einer Philosophin, die stets genau dort angefangen hat zu denken, wo ihrerzeit die meisten aufgehört haben. Genau deswegen wollte sich Arendt übrigens auch nie als Philosophin bezeichnet wissen. Nicht etwa, weil sie sich dem Begriff nicht gewachsen gefühlt hätte. Sondern weil ihr dieser Raum schlichtweg zu knapp bemessen war. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Stimmung tendenziell politikverdrossen war, hatte Arendt durch ihre Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Denken und Handeln den politischen Dialog zurück in die Vorlesungssäle gebracht. Federführend in Zeiten politischer Krisen ist die mangelhafte Akzeptanz einer pluralen Gesellschaft, die ein gemeinsames Leben in Frieden vereitelt. Ihre Prämisse, dass der Mensch im innersten Wesen nie allein ist, weil er immer schon im Miteinander lebt, führte sie zu der Annahme, dass der Mensch ohne Pluralität, im Alltäglichen sowie im Politischen auf den Dialog bezogen ist.

Schmidt übersetzt Arendts teils voraussetzungsreiche, teils kryptisch formulierte Gedanken zur Thematik des Gemeinsamkeit aller Menschen im Geborensein in eine Welt, die immer schon auf eine bestimmte Weise vorzufinden ist. Die Perspektiven, die wir jeweils einnehmen, sind nicht ausgesucht und unsere Bedingungen gesetzt. Arendt benutzt diese Einsicht allerdings nicht, um unsere Verschiedenheit zu demonstrieren, sondern um uns in dieser Verschiedenheit ins Verhältnis zu setzen. Besonders aber, um unsere Abhängigkeit eines Dialogs vorzuführen. Die Autorin gibt dem Leser Arendts Werk als Denk-Werkzeug in die Hand. Als Denk- und Handlungsweise, die uns in allen Zeiten zur Verfügung steht – ob das nun New-Yorker-Leser in den 1970er-Jahren wütend machte, die sich durch ihre Erzählung über den Eichmann-Prozess angegriffen fühlen oder heutige Gegner der Flüchtlingshilfe. Die Bundesrepublik, aber auch die EU war politisch selten so zerrissen wie derzeit. Dieser Riss ist gespeist aus Ängsten und aus Wut, dabei geht es um alte Grabenkämpfe in puncto Toleranz, Sexismus und Gleichberechtigung, die sich an aktuellen Phänomenen wie #metoo oder der Flüchtlingsdebatte entladen. Die Folgen des Arendt'schen Denkens allerdings, und darauf zielt vorliegendes Buch ab, ermöglichen in unseren heutigen Diskursen einen neuen Ausgangspunkt, diesen entgegenzutreten.

„Nein, ich will verstehen.“

So oft Arendt zu Lebzeiten auch missverstanden worden sein mag – dass sie nicht radikal genug gedacht hätte, kann man ihr nun wirklich nicht vorwerfen. Möglicherweise war sie gerade in ihrem Versuch, „verstehen“ zu wollen, radikal. Schmidt zitiert eine der prädestinierten Lieblingsstellen aus dem bekannten Gaus-Interview: „Jetzt fragen Sie über die Wirkung. Es ist doch das […], wenn ich ironisch reden darf, es ist eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen.“

Einmal ganz abgesehen von der für ihre Zeit umwerfend pointierte Beobachtung über das männliche Wirken-Wollen, zeigt sich in dieser Äußerung der ihr inhärente Dialog zwischen dem leidenschaftlich Zugang zu einer Sache – die sie verstehen will – und der Außenperspektive. Scheinen sich diese Tätigkeiten zunächst zu widersprechen, so treffen sie sich in der philosophischen Tätigkeit. Das Wirken, das Schmidt nicht ohne Grund als Spott auf das medizinische Wirken von Arzneimitteln bezieht, erstrebt Arendt nicht. Die Art und Weise, auf die sie über den virilen Wunsch von Wirkung spottet, macht den Wunsch wach, sie nur ein einziges Mal bei einer Björn-Höcke-Rede beobachtet zu haben. Das Wirken von Männern in patriarchischen Strukturen, wie sie auch heute noch in Unternehmen kultiviert werden, das Aufkommen von Biopolitik, ja sogar die stufenweise Abschaffung individueller Verantwortung in Alltagsprozessen sind Themen, die Arendt alle schon behandelt hat. Sie hat nicht auf alle Fragen, die uns heute tangieren, Antworten gefunden. Aber sie hat in einer Welt, die ähnlich im Umbruch war wie die heutige, die richtigen Fragen gestellt und sich auf die Suche gemacht, diese auf eigene Faust zu beantworten, ohne vermeintliche wegweisende Koryphäen und ohne Geländer. Und zwar mit einer Leidenschaft für Geistesgeschichte und Gegenwart, einer ordentlichen Portion Humor und einem bis zum Schluss nicht enden wollenden Dialog mit sich selbst und mit ihrem Umfeld.

Weil Denken gemäß Arendt immer ein Zwiegespräch ist, sollten wir uns bemühen, dieses Gespräch nicht nur mit uns selbst zu führen, sondern auch mit den Lebenden gleichwohl den Toten, mit denen, die wir lieben, mit Jesus oder eben mit Hannah Arendt. Dieses Buch hilft bei zumindest Letzterem. Und auch das gelingt Schmidt nicht nur am Beispiel von Arendt, sondern auch in Andenken an sie. Sie gibt eine historische und denkorientierte Einordnung, aufgrund derer wir zu urteilen lernen, wobei immer wir auf unser Urteil zurückgeworfen werden, sei es in der Politik oder im alltäglichen Miteinander.

„[D]ie Möglichkeit zu urteilen ohne den Anspruch, das Ganze in der Hand zu haben, und sogar ohne etwas Dahinter-stehendes, Verborgenes zu verurteilen. Urteilen, ohne zu beurteilen, und ohne zu verurteilen. Gibt man die Urteilskraft aus der Hand, wird in der tat alles Schwindel.“

(Zitat aus dem Buch)

Juliane Reichert promoviert im Rahmen der Studienstiftung des deutschen Volkes. Titel ihres Dissertationsvorhabens: „Böses und Ambiguität – Eine Anwendung Hannah Arendts Theorie des Bösen“. „Arendt und die Folgen“ von Jana V. Schmidt ist im J. B. Metzler Verlag erschienen.

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