„Kategorien müssen überwunden werden“Interview mit der künstlerischen Leiterin des Solistenensemble Kaleidoskop

Seventy Deadly Sins start

Foto: Christina Voigt

Neustart Musik. Das international renommierte Solistenensemble Kaleidoskop feiert dieses Jahr 15-jähriges Bestehen, und nach einem Jahr mehr oder minder aufoktroyierten Pause stehen die Musiker:innen erstmalig wieder auf der Bühne mit der Uraufführung der Arbeit „The Seventy Deadly Sins“, die gemeinsam mit Ariel Efraim Ashbel und dem Komponisten Ethan Braun entstand. Wir sprachen mit der künstlerischen Leiterin Boram Lie über neue Visionen, dem Prozess als Teil der Kunst und dem Reset nach dem stillen Jahr 2020.

Erzähl uns kurz was über die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung eures Ensembles.
Wir feiern in diesem Jahr 15. Jubiläum. Wir haben uns 2006 zusammen gefunden und die meisten waren damals Studierende an der UdK. Uns ging es darum, mit jugendlichem Elan Konzerte selber zu veranstalten, auf die man selber Lust hätte hinzugehen. Wir wollten Konventionen brechen, Konzerte anders interpretieren. Ein bisschen rebellisch waren wir, weil uns die Rituale klassischer Konzerte genervt haben. Wir wollten stets neue Sachen probieren: Wie man mit Repertoire umgeht. Dass man mit Collagen arbeitet, unterschiedliche Stile kombiniert, um dem Publikum auch einen anderen Zugang zur zeitgenössischen Musik zu ermöglichen. Über die Jahre kamen viele performative Aspekte dazu.

Es gibt die großen klassischen Häuser auf der einen Seite, eine große Popszene auf der anderen, mit der ihr viele Schnittstellen geschaffen habt. Wie werdet ihr nach 15 Jahren von der klassischen Szene mittlerweile gesehen bzw. akzeptiert?
Reibungen gibt es sicherlich. Mit der klassischen Szene haben wir derzeit wenig Kontakt. Wir sind kein Fachensemble. Wir spielen barockes Repertoire, aber auch Zeitgenössisches. Der amateurhafte Charme ist uns aber wichtig, dass wir uns nicht zu sehr auf eine Form spezialisieren. Wir haben in den Jahren viel Wissen angeeignet. Aber uns ist wichtig, dass wir nicht nur in eine Kategorie passen.

Passiert gerade generell mehr in der Richtung? Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Daniel Glatzel vom Andromeda Mega Express Orchestra – auch wenn das vielleicht ein anderer Stil ist. Euch beide eint, dass ihr schon viele Jahre dabei seid.
Mit Andromeda haben wir tatsächlich viele Berührungspunkte. Wir wundern uns aber auch, dass wir so lange dabei sind. Ich habe dein Interview mit ihm gelesen und das ganze Fördersystem, in dem man jedes Jahr alles neu beantragt, ist auch für uns eine Herausforderung. Mit den Jahren haben wir uns mit interessanten Partnerschaften ein Renommee erarbeitet, so dass wir existieren können. Andromeda ist indes ein gutes Zeichen dafür, dass die Szene offener geworden ist. Da hieß es immer wieder, das sei ja Jazz und keine neue Musik. Aber die Szene ist vielfältiger geworden. Es gibt heute viel mehr Projekte und Ensembles, die interdisziplinärer und transdisziplinärer arbeiten und dadurch auch sichtbarer geworden sind. Die Kategorisierungen in Musik, in darstellende Kunst, Performance oder Jazz ist weiterhin etwas, das wir alle überwinden müssen. Da hinken die Fördersysteme hinterher.

Boram Lie Dan Caetano

Die künstlerische Leiterin von Kaleidoskop Boram Lie | Foto: Dan Caetano

Weiterhin Fluch und Segen zugleich?
Klar, ohne das Geld geht es nicht und wir sind froh, dass es das gibt. Aber die Kategorien sind ein Problem. Man muss immer das sein, was man beantragt hat. Aber es sollte auch die Möglichkeit bestehen, sich natürlich zu entwickeln. Mittlerweile sehen wir als Kaleidoskop das als Qualität, nirgendwo so richtig hinzugehören, und das nicht nur als künstlerische Unsicherheit zu verstehen.

Crossover war lange Zeit ein Schimpfwort.
Ist es immer noch. (lacht) Es beinhaltet, dass Dinge nebeneinander existieren. Wir versuchen aber die Dinge, die beim Crossover nebeneinander laufen, wirklich zu verbinden und zu vereinen und eine neue Welt zu kreieren.

„The Seventy Deadly Sins“ ist eure erste Live-Arbeit, nach dem stillen Jahr 2020. Was habt ihr aus dieser Zeit herausgezogen? Wie seid ihr mit der Situation umgegangen?
Total ambivalent. Zunächst war es ein Schock, dass wir nicht mehr proben und auftreten konnten. Wir haben alle festgestellt, auf was für einem dünnen Eis wir uns bewegen. Für uns hat sich die Frage gestellt, ob ein Leben als freiberufliche Musikerin und Musiker überhaupt Sinn macht. Die Frage nach Relevanz hat eine Rolle gespielt. Wir sind ja sowas von nicht systemrelevant. Wenn man plötzlich ganz unten auf der Liste ist, dann macht das was mit einem. Trotzdem konnten wir die Zeit gut nutzen. Seit zwei Jahren sind wir ein Team, das die künstlerische Leitung innehält. Neben mir macht das noch Volker Hormann. Mir persönlich hat es viel gebracht, dass erstmal Ruhe einkehrte, und mich in der Position zurechtzufinden. Eigentlich war es gut, viel über die Zukunft nachzudenken. Das tat gut, weil wir im laufenden Betrieb immer nur mit der Gegenwart zu tun hatten. Aus diesem Rad kommt man schwer raus. Anträge schreiben, Gigs organisieren – man hatte immer das Gefühl, man rennt hinterher. Wir haben Zeit verbracht, Sachen zu organisieren, damit wir uns für die Zeit danach gut aufstellen können. Themen finden, die interessant und relevant sind, und herausfinden mit welchen Künstler:innen wir uns verbünden wollen. Zum ersten Mal haben wir eine Vision und eine Linie für die nächsten zwei Jahre. Nach einem Jahr Pandemie war es aber wichtig, dass wir uns wieder zusammengefunden haben. Letztes Jahr hat mir gezeigt, dass man beides braucht. Man braucht Momente der Klausur und Reflektion, aber man muss auch machen. Wir drücken die Daumen, dass das jetzt weiter geht. Wenn jetzt nochmal ein Lockdown kommt, sehe ich eine große Depression auf uns zukommen.

„Nach einem Jahr Pandemie war wichtig, dass wir uns wieder zusammengefunden haben. Letztes Jahr hat gezeigt, dass man beides braucht. Man braucht Momente der Klausur und Reflektion, aber man muss auch machen.“

Erzähl uns was über die Kooperation mit Ariel Efraim Ashbel, mit dem ihr „The Seventy Deadly Sins“ entwickelt habt und nun uraufgeführt wird.
Ariel ist multidisziplinärer Künstler, Theaterregisseur, Choreograph, ein Tausendsassa. Er kommt aus Tel Aviv und lebt heute in Berlin. Er hat im HAU viele tolle Sachen gemacht, die uns aufgefallen sind, auch weil sie immer spektakulär sind und gut aussehen. Nach unseren ersten Treffen war klar, dass wir was zusammen machen müssen. Er kann viele Dinge auf leichtfüßige und kluge Art miteinander verbinden. Wir kamen schnell auf das Thema Operette und Musical. Ariel bringt viele popkulturelle Referenzen mit. Er brachte den Komponisten Ethan Braun mit ins Projekt. Ariel kam schnell mit der Referenz der sieben Todsünden von Kurt Weill und so haben wir 70 Todsünden daraus gemacht.

Seventy Deadly Sins 2 Dan Caetano

The Seventy Deadly Sins, Impression von der Generalprobe | Foto: Dan Caetano

70 muss man erstmal zusammen kriegen.
Genau. Dann sind eventuell nicht alles Todsünden, vielleicht auch Minisünden. Aber die Frage ist: Ab wann versündigt man sich? Dann hatten wir das Wortspiel zwischen dem englischen „sin“ und dem deutschen „Sinn“. Wie kann man eine neue Sinnlichkeit reinbringen? Der Austausch war kreativ. So ist diese Show rausgekommen, die erst im Probeprozess entstanden ist. Es ist schön, dass viel von jedem Einzelnen dabei ist. Im letzten Jahr fingen wir mit einem großen Workshop an. Jeder von uns sollte sein Lieblingsstück und sein Hassstück mitbringen. Daraus hat sich eine Landschaft mit wahnsinnig heterogenen musikalischen Material mit viel persönlichem Bezug ergeben. Unterschiedlichste Stile kamen zusammen. Daraus haben Ethan und Ariel 70 Miniaturen, kleine Akte, entwickelt. Ethan, der aus L.A. kommt und einen Jazz- und Pop-Background hat, hat das alles musikalisch verarbeitet.

Durchaus riskant, erst während der Probe ein Stück zu erarbeiten.
Bei Kaleidoskop haben wir uns immer mit Künstler:innen aus anderen Genres verbündet. Das steht nun noch expliziter im Fokus. Dadurch öffnen sich unsere Horizonte. Uns ist aber auch das prozesshafte gemeinsame Arbeiten noch wichtiger geworden. Wir beginnen mit einem Workshop, in dem Material ausgetauscht wird. Wir wollen nicht mehr, dass jemand mit fixem Material kommt und wir reproduzieren das wie in einem konventionellen Orchester. Es erscheint uns interessanter, den Weg dahin mitzugestalten. Zwar wissen wir alle nicht, wie das am Ende wird, aber diese Entwicklung ist für uns heute von größerer Bedeutung denn je. Das gilt auch für unsere zukünftigen Arbeiten.

Was waren dein Lieblings- und Hasstück?
Mein Lieblingsstück war der Anfang von Schuberts Es-Dur-Trio, das auch in Kubricks Barry Lyndon groß gefeaturet wird. Ein Stück, das ich oft gespielt habe und durch den filmischen Kontext noch eine andere Ebene hat. Mein Hassstück war der Anfang von Dvořáks Cello-Konzert, das ich nie geschafft habe hinzukriegen. (lacht)

Ist „The Seventy Deadly Sins“ erstmal auf die drei Aufführungen im Radialsystem beschränkt?
Erstmal ja, aber wir hoffen, dass wir damit auch touren können. Mal schauen, wohin uns die Reise führt. Und wir haben einige weitere Projekte in der Planung. Mit Pol Pi, einem brasilianisch-französischen Choreographen, erarbeiten wir das berühmte Streichquartett von Schostakowitsch, allerdings ohne oder nur teilweise mit Instrumenten. Wir werden das zwar nicht tanzen. Aber die Affekte, die die Musik bringt, eine ziemlich genaue Recherche der Partitur, werden wir auf die Körper übertragen. Das wird eine sehr konsequente und performative Arbeit sein.

Solistenensemble Kaleidoskop Sonja Müller

Solistenensemble Kaleidoskop | Foto: Sonja Müller

„The Seventy Deadly Sins“ wird am 6./7./8. August 2021 im Radialsystem, Berlin aufgeführt.

Weitere Infos:
Radialsystem
Kaleidoskop

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