In The Mood For ChangzhouAus dem Leben einer chinesischen Millionen-Kleinstadt

Liyang Road 1 full Natalie Mayroth

Posen für das perfekte WeChat-Foto. Junge Chinesinnen auf der Landstraße Nummer 1 in Liyang.

Es gibt wenige Länder auf der Welt, in denen Städte derart flott vom Staat geplant und umgesetzt werden wie in China. So wie der Stadt Changzhou ergeht es vielen Ortschaften in China. Die jahrtausendealte Stadt in der Provinz Jiangsu im Osten des Landes wurde quasi komplett abgerissen, neu aufgebaut, beherbergt heute 4,7 Millionen Einwohner und ist zugleich Folie für den neuen Chinesischen Traum. Wie lebt es sich im neuen selbsterklärten Superreich abseits der Megastädte Peking, Shanghai und Shenzhen? Natalie Mayroth hat Changzhou besucht und sich für ihre Reportage das vielschichtige Spannungsfeld zwischen Boomtown, Tradition, Digitalisierung, aufkeimender Popkultur, Überwachungsstaat und Kommunismus genauer angeschaut. Und erklärt uns auch, was das alles mit Dinosauriern zu tun hat.

„Das Leben hier hat sich sehr verändert”, sagt WeiYu. Im Bewusstsein, dass die Zeiten, in denen er Wasser im Brunnen vor seinem Elternhaus geschöpft hat, längst der Vergangenheit angehören. Er wohnte damals nicht weit entfernt vom großen Kanal und der Gasse Qingguo Xiang, die im Herzen Changzhous liegt. Eine Gasse, die noch an das alte Leben am Jangtse-Delta erinnert.

Das ist kaum vorstellbar, da Changzhou anmutet, als wäre es auf dem Reißbrett entstanden. In den letzten 30 Jahren blieb kaum ein Stein auf dem anderen. So hat sie in den vergangenen Jahrzehnten ein neues Gesicht bekommen, das mit der 3.000 Jahre alten Stadt nicht mehr viel gemein hat. Dabei steht Changzhou exemplarisch für den Wandel, den Chinas Städte in den letzten drei Jahrzehnten erlebt haben: Natürlich gewachsene Struktur wurde gegen konstruierte Stadtplanung getauscht.

Die schnelle Entwicklung seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in den 1980er-Jahren hat die Urbanisierung der Städte beschleunigt, aber auch vor Herausforderungen gestellt. Hochhäuser schienen die einzige Lösung, um den Bevölkerungsanstieg zu bewältigen. Ältere Gebäude wurden abgerissen, es entstanden Fabriken, moderne Bürogebäude und Wohnsiedlungen. Im sozialistischen Wohnungsbau wurde dem Allgemeinwohl zuliebe erneuert und gleichgesetzt. Das führte dazu, dass sich die heutige Silhouette Changzhous kaum von der anderer mittlerer Städte Chinas unterscheidet. Dieser Verlust von Tradition wurde nach und nach durch aufwendige Bauvorhaben und Museen kompensiert.

Changzhou Natalie Mayroth Metro II
Changzhou Natalie Mayroth Metro

Der nächste Schritt zur Modernisierung: In Changzhou wird eine U-Bahn gebaut.

Trotz guter Voraussetzungen für die Landwirtschaft und viel unbelassener Natur schrumpft in den ländlichen Gebieten Jiangsus die Bevölkerung. Die Städte hingegen boomen, denn mit der Stadtentwicklung im Jangtse-Delta stieg auch der Zuzug von Wanderarbeitern. Bis 2020 werden in Changzhou, dessen Stadtkern in etwa so groß wie Berlin ist, eine Million Einwohner mehr erwartet.

Lange hat sich die Drachenstadt bemüht, an glorreiche Zeiten anzuknüpfen. In der Antike war sie für ihr Textilhandwerk bekannt. Der alte Kaiserkanal, der durch die Stadt fließt, transportierte einst Waren von hier bis hoch in den Norden nach Peking, später ins östlich gelegene Shanghai. Als Haupttransportweg wurde er jedoch von einem neuen Kanal sowie von Schienen- und Flugverkehr ersetzt. An diese Historie erinnert ein Museum, demnächst wird es durch ein weiteres Freilichtmuseum entlang der Gasse Qingguo Xiang ergänzt.

Heute dominieren Maschinenbau und Hightech die Industriestadt, die auf zukunftsversprechende Technologien wie der Verarbeitung von Graphen, Robotik und der Produktion von Solaranlagen sowie Maschinen- und Zugbauteilen setzt. Nicht nur mithilfe von kräftigen Subventionen unterstützt die Stadt diesen Wirtschaftssektor, in dem auch deutsche Unternehmen wie MAN oder ThyssenKrupp angesiedelt sind. Junge Absolvent*innen werden umworben, entweder mit Stellen im produzierenden Gewerbe oder mit günstigen Büros, um den Start in die Selbstständigkeit zu ermöglichen.

Changzhou Natalie Mayroth Skyline
Changzhou Natalie Mayroth Strom

Ungleiches Paar: CCTV-Überwachungslaterne nebst Palme.

Träumen erlaubt

Changzhou steht für den chinesischen Traum: Eine hochmoderne Stadt mit langer Geschichte, die zugleich mobil, sauber und effizient ist. Auch deshalb verzichtet sie seit zehn Jahren auf Einnahmen durch Werbung auf öffentlichen Flächen. Alle 500 Meter soll nach Planung ein Park mit 5.000 Quadratmetern stehen. Nur eine U-Bahn würde noch fehlen, doch an der wird schon gebaut. Dennoch, die einst progressiven Hochhäuser – ein Zeichen der Integration – sind heute nicht rückgängig zu machen. Nur wenige historische Orte blieben überhaupt erhalten. 


Bereits während der Kulturrevolution wurden zahlreiche Gebäude, Denkmäler, Tempel und traditionelle Gärten zerstört oder dem Verfall preisgegeben. Doch das trifft nicht auf alle kulturellen Stätten zu: Einige wurden wieder instand gesetzt, darunter der Tianning-Tempel (天宁寺) aus der Tang-Dynastie (618-907), der zuletzt 2007 aufwendig restauriert und durch die welthöchste Pagode ergänzt wurde. Ein anderes älteres Quartier, das Gelände der ehemaligen Textilfabrik Canal 5, fungiert heute als Kreativ- und Kulturzentrum mit Restaurants, einer Galerie und besagtem Kanalmuseum. Nachts verwandelt es sich in ein reges Ausgehviertel.

Changzhou Natalie Mayroth Uhr
Changzhou Natalie Mayroth Tianning

Klassizistisch: Die höchste Pagode der Welt im Tianning-Tempel – Baujahr 2007.

Was hält junge Menschen in der Stadt?

Im Gegensatz zu Peking, wo Bars regelmäßig geschlossen werden, bis sie an anderer Stelle wieder öffnen, fördert hier die Stadt das Nachtleben und lokale Popkulturen. Diese Chance haben Amy und ihre Freude ergriffen: Ihre Event- und Musikagentur verdiente mit Musikkompositionen für Shopping-Mall-Events gut, mit den Einnahmen haben sie im September den Pop-Club „Max Livehouse“ im Stadtteil Zhonglou eröffnet.

Die meisten Bars für junge Leute, wie das eingesessene „Maze Livehouse“ im Canal 5-Viertel, spielen am liebsten Rockmusik oder HipHop. Mit ihrem eigenen Club verfolgt Amy einen anderen Plan. „Max ist eine Bühne für unsere eigenen Musiker”, sagt die 29-Jährige. Mit eigener Musik meint sie C-Pop a là Jay Chou. Ihr erstes Business, die Agentur mit Musikstudio, haben sie auf einem städtisch geförderten Campus aufgebaut. Die Stadt sei auch unter ihren Kunden, was sie sehr unterstütze. Doch mit dem zusätzlichen Club in der Innenstadt sind die jungen Kreativen anscheinend immer noch nicht ausgelastet: Ihr nächstes Projekt, das eigenes Hobby und Unternehmertum verbindet, ist die Eröffnung eines Skate- und Basketballplatzes, der von privaten Investoren finanziert wird. „Das Leben in den großen Städten wie Shanghai ist viel komplizierter. Allein die Mieten sind hier schon viel günstiger“, daher könne sie sich nicht beschweren.

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Changzhou Natalie Mayroth Amy

Die Betreiberin des Clubs „Max Livehouse“ Amy setzt auf C-Pop.

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Amys Kollege Marco vor der Eingangstür des Clubs, die sich jedoch als Kühlschrank tarnt.

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Der Englischlehrer WeiYu wuchs als Kind schon in Changzhou auf.

Auch WeiYu hat das einfache Leben und die Nähe zu seiner Familie nach dem Studium aus Shanghai zurückgeführt. „Das Tempo hier ist nicht so schnell“, sagt der Englischlehrer. Wenn er Shanghai vermisse, könne er einfach hinfahren – es ist nur eine Stunde mit dem Zug entfernt. In Changzhou hat er nach einem interessanten Job gesucht, den hat er gefunden. Doch viele seiner Freunde hätten einen anderen Weg eingeschlagen und sich gegen ein Leben in ihrer Heimatstadt entschieden, berichtet er.

Auch wenn die Changzhouer Stadtregierung so etwas wie einen eigenen Plan verfolgt, sie untersteht weiterhin der Kommunistischen Partei Chinas. Und die Regierung hat neben der Urbanisierung einen weiteren wichtigen Plan auf ihrer Agenda: Ab 2020 soll ein digital und zentral erfasstes Punktekonto Auskunft über die Vertrauenswürdigkeit von Bürgern, Firmen und Behörden im ganzen Land geben. Das sogenannte Sozialkreditsystem (Social Credit Score) befindet sich derzeit offiziell in der Testphase, dennoch macht es sich bereits jetzt in vielen Lebensbereichen bemerkbar. Die Stadt Changzhou bereitet sich auf diese Entwicklung insofern vor, als dass sie an den Bahnhöfen Yixing und Zhenjiang moderne Kameras mit Gesichtserkennung installiert hat, um damit mehr Sicherheit zu garantieren. Laut chinesischen Medien mit Erfolg: Über 130 „Verdächtige“ seien durch das Überwachungssystem bereits gefasst worden.

In anderen Lebenssituationen basiert das Verfahren noch auf einer Art freiwilligen Datenauskunft. Zum Beispiel erhält man an manchen Bahnhofstoiletten Klopapier nur gegen einen QR-Code-Scan mit der App WeChat, jener chinesischen Variante von WhatsApp, die aber vor allem für den mobilen Zahlungsverkehr genutzt wird. Ähnlich wie die wirtschaftlichen Versprechen auf ein besseres Leben, das sich in den Achtziger-Jahren gegen die traditionelle Verwurzelung durchsetzte, wird hier mit dem Abtreten von persönlicher Freiheit bezahlt. Im Namen des prosperierenden Wohlstand und mehr Sicherheit, hat man Einschränkungen in Bereichen wie Menschenrechte, Privatsphäre und Pressefreiheit hinzunehmen. Eine Analogie, die auch auf das Sozialkreditsystem anzuwenden ist und sich spätestens seit dem Tod Maos 1976 durchgesetzt hat.

Changzhou Natalie Mayroth Qingguo Xiang

Blick auf die Gasse Qingguo Xiang. Am Horizont vermischen sich Betonhäuser mit dem Himmel Grau in Grau.

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Der Nanshi-Kanal ein paar hundert Meter weiter. Das letzte Stück Stadtgeschichte wird als Freilichtmuseum zur Attraktion.

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Tradition: Vom Abriss bedrohte Hintergasse in Changzhou.

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Moderne: Toilettenpapier nur gegen persönliche Daten.

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China möchte in Zukunft auch die Luftfahrt beherrschen. Dem Thema widmet sich dieser Freizeitpark.

Tourismus oder die „Wiederbelebung des Ländlichen“

Nach der Hochphase der Industrialisierung wird in vielen chinesischen Städten, so auch in Changzhou, der Tourismus zu einer wichtigen Einnahmequelle. In und um die Stadt herum gibt es zahlreiche Freizeitparks. Neben der „Welt des Daoismus“ findet sich in der Drachenstadt Changzhou auch ein Dinosaurierpark (中华恐龙园). Wie nahe sich die Dinosaurier und Drachen in China stehen, merkt man an der Namensgebung: Drache heißt Long, Dinosaurier Kong Long. Obwohl es in der Region nie Drachen- beziehungsweise Dinosaurierfunde gab, wurde der „Eastern Jurassic Park" mit Fossilien wie dem Sinosauropteryx aus Peking und einer Dinoconda-Achterbahn eröffnet.

Doch was macht so eine Stadt aus? Die Kultur oder das Geistesleben, wie Georg Simmel einst schrieb, unterscheidet die Stadt vom Land. Andersherum kann man sie, wie der Soziologe Walter Siebel, als „Differenz zum Land“ sehen. Eine spürbare Diskrepanz.

Die westlich von Changzhou gelegene Region Liyang kennen selbst in China nur Wenige, obwohl sie von zahlreichen Seen und Flüssen durchzogen ist und sich deutlich durch ihre idyllisch schöne Umgebung abhebt. Bis 2018 war sie jedoch nur schlecht erreichbar. Erst die Fertigstellung der „Liyang Rural Tourist Road“ schuf eine Verbindung zu unzähligen Dörfern, Grünstreifen und Foto-Attraktionen. Die 300 Kilometer lange Regenbogenstraße ist Teil des staatlich initiierten „Xiangcun Zhenxing“ – der Wiederbelebung des Ländlichen. Damit versucht China dem Problem der Landflucht beizukommen. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping setzte sie sogar auf die politische Agenda, um der Zuwanderung in den bereits überbevölkerten Städte entgegenzuwirken.

Changzhour Natalie Mayroth Dino
Changzhou Natalie Mayroth Dinopark

Prähistorik als Stadt-Marketing: Riesige Pflanzenfresser und unkonventionelle Fortbewegungsmittel im Dinopark der Stadt.

Liyang Brücke

Ländliche Wiederbelebung I: Diese Brücke in Liyang wurde originalgetreu wieder aufgebaut.

Changzhou Natalie Mayroth Heart
Changzhou Natalie Mayroth Straße1

Ländliche Wiederbelebung II: Diese Herzskulptur (Goddess Heart) und die scheinbar endlose Landstraße Nummer 1 sind beliebte Fotospots für junge Chinesen aus den umliegenden Großstädten.

„Natur to Go”

Eine Möglichkeit, die ländlichen Strukturen wieder attraktiv zu machen, ist den Tourismus aufzubauen. Er soll Jobs und Infrastruktur in Gebiete wie Liyang bringen. Millionen Yuan wurden in ein Abwassersystem investiert und einige umliegende Dörfer restauriert. Bambuswald, Teeplantagen, grün bedeckte Berge und frische Luft warten auf Großstadttouristen aus Nanjing oder Shanghai, die hier den Reiz der Natur erleben können. Damit es nicht langweilig wird, plante man Restaurants und Fotospots mit Herz-Skulpturen wie „Goddess Heart“ ein. So wird Natur zur Attraktion: Minibusse fahren vor allem junge Leute aus nahegelegenen Städten hierher. Die meisten kommen nur, um mit ihren Smartphones sich und die umliegende Landschaft zu fotografieren. Locations wie „Goddess Heart“ sind bei jungen Menschen so populär, weil sie zuvor auf Plattformen wie Tik Tok (Douyin) viral gegangen sind.

Natur ist für viele junge Chinesen heute nichts Selbstverständliches mehr: der Preis, den sie für ein Leben in den Megacitys zahlen. Ihr Alltag ist geprägt von grellen Farben, Leuchtreklame und Plastik. Ein Eindruck, den auch ich gewann, als ich 2016 das erste Mal nach China reiste. Dieser Blick hat sich verändert: Ich sehe heute ein Land, das sich vom Westen emanzipiert und dabei auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist. Ob in großen oder kleinen Städten, in denen mit besonders schlechter oder vielleicht besserer Luft – alle scheinen auf der Suche nach etwas zu sein, das noch in den wenigen alten Gassen wie Qingguo Xiang schlummert. Eine gesellschaftliche, architektonische und städtische Tradition und Historie, die wenig atmet, sondern vornehmlich nur noch in Museen und Freizeitparks stattfindet.

Changzhou Natalie Mayroth Tempel

Weitere Quellen:
Youjing, Shi; Jiadong, He (1996): Sustainable Development Research for Changzhou City, Vol. 25, No. 2, The Sustainable City.
Gu, Chaolin; Wu,Fulong (2010): Urbanization in China: Processes and Policies, China Review, Vol. 10, No. 1.
Lin Cai (2011): Strategien der Stadterneuerung in China am Fallbeispiel Yangzhou, Technischen Universität Berlin, 2011
Siebel, Walter (2015): Die Kultur der Stadt, Suhrkamp, Berlin.
Schwabe, Alexander (2018): Ein Reich sucht seine Mitte, Christ in der Gegenwart.

Transparenzhinweis: Die Reise nach China folgte auf Einladung der Stadt Changzhou.

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