Das Kapital macht agil, bei Arbeit, Sport und SpielUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 8

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In den vergangenen Wochen und Monaten wagte Timo Daum einen deep dive in die Tiefen der Agilität – auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage aller Fragen: Ist das nun echter Fortschritt oder nur eine weitere Methode des Kapitalismus, die Untergebenen nach Strich und Faden zu knechten? Im achten und letzten Teil der vierten Staffel von „Understanding Digital Capitalism“ zieht der Autor Bilanz.

Was im Februar 2001 mit dem „Manifest für Agile Softwareentwicklung“ und seinen vier Parolen und zwölf Prinzipien begann, hat nicht nur die Software-Branche radikal umgekrempelt. In den letzten Jahren erfreuen sie sich auch in anderen Branchen Beliebtheit. Von der Bundeswehr bis zur Wissenschaft, von der Autoindustrie bis zu Versicherungen – keine Branche kann sich ihnen mehr entziehen. Das liegt an zwei Dingen: Erstens gewinnen Software-Entwicklung und IT-Prozesse in allen Branchen an Bedeutung, immer mehr Prozesse werden informatisiert, die IT-Abteilungen wachsen, und Software-Entwickler*innen werden händeringend gesucht. Und zweitens geht in allen Branchen geht die Angst um vor der Disruption durch innovations- und kapitalstarke Digitalkonzerne. Die Reaktion ist eine Flucht nach vorne: Alle wollen selbst zu den Digitalkonzernen werden, vor denen sie so viel Angst haben, und sich in digitale Service-Dienstleister verwandeln.

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So hat Volkswagen Anfang des Jahres seine Softwareaktivitäten in einer neuen Gesellschaft gebündelt. VW-Chef Herbert Diess beschwört seine Leute, deren Erfolg sei für die Zukunft des Konzerns entscheidend, denn er müsse sich vom Auto- zum Tech-Konzern wandeln. Das Handelsblatt schreibt:

„Software wird immer wichtiger – und Volkswagen will die Hoheit darüber behalten, um nicht zum Anhängsel großer IT-Konzerne wie Apple oder Alphabet zu werden.“

Diess weiter: „2020 wird zeigen, wie wetterfest, agil, reaktionsfähig wir geworden sind.“ Wie schwer das werden wird, zeigt schon der Name der neuen Sparte: „Car.Software.org“.

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VW-Vorstandsvorsitzender Dr. Herbert Diess. Foto: Volkswagen AG

KFZ.EDV.ORG

Gleich drei große Worte werden hier in einen Namen hineingepresst: Neben Elektronischer Datenverarbeitung haben es noch zwei weitere geschafft, in der die Deutschen traditionell als stark gelten: Automobil und Organisation. Damit das Ganze aber nicht zu altbacken wirkt: Alles auf Englisch und in einer Notation, die an Internet-Domains angelehnt ist. Auch die das neue Unternehmen begleitende werbliche Botschaft klingt nicht gerade fresh: „Smartphones auf vier Rädern“ sollen künftig vom Band rollen, heißt es.

Das erinnert an Diess‘ Vor-Vorgänger Martin Winterkorn, der auf der Volkswagen Group Night am 15. September 2015 verkündete: „Bis Ende des Jahrzehnts machen wir jedes unserer neuen Autos zum rollenden Smartphone!“ Ein Tag später brachte die kalifornische Umweltbehörde den Dieselskandal ins Rollen, der VW bis dato 23 Milliarden an Strafzahlungen eingebracht hat. Winterkorn musste gehen und wartet zur Zeit auf seinen Prozesstermin: Das war bereits Thema dieser Serie.

Die seit Anfang des Jahres produzierten rein elektrischen ID3-Modelle sind dabei die ersten Volkswagen, die mit der Automotive Cloud verbunden sind. Einer Plattform, die Volkswagen mit Microsoft entwickelt, und die den Zugriff auf digitale Services im Fokus hat – eine Innovation, die z.B. beim Konkurrent Tesla von Anfang an zum Systemdesign gehörte. Übrigens: Die Software für die ID3s, die bereits im Werk in Zwickau produziert werden, ist noch gar nicht fertig, die Fahrzeuge werden derzeit auf Halde produziert, sind also weder smart noch rollen sie. Nicht nur Volkswagen will sich wie einst Münchhausen mit einer verstärkten Orientierung auf IT am eigenen Schopf aus dem Innovationsloch, in das sie sich mit ihren Dieselfahrzeugen manövriert haben, herausziehen. Auch in Stuttgart will man schneller, agiler, digitaler werden. Daimler kündigt an, 10.000 Managern die „Mitgliedschaftsalternative“ (Niklas Luhmann) aufzuzeigen. In der neuen Projektwelt werden ganze Hierarchie-Ebenen überflüssig. Statt nach oben buckeln und nach unten treten, ist jetzt hierarchiefrei kreativ sein angesagt – unbossing halt.

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Software leider noch nicht ganz fertig: Der neue ID.3 von VW. Foto: Volkswagen AG

Human Relations

Die Gewerkschaften verlegen sich derweil aufs Co-Management. So untersucht etwa das Verbundprojekt „Gute Agile Projektarbeit“, „wie agile Teams bei der Selbstorganisation unterstützt“ werden können. Verdi-Vorstand Christoph Schmitz bilanziert auf der Tagung am 30. Januar: Trotz insgesamt stark gestiegener Arbeitsbelastung in der IT-Branche – zwei Drittel der Beschäftigten machten chronisch Überstunden – stünden die agil Arbeitenden leicht besser da, weil diese ihre knappen Zeitressourcen wenigstens selbst einteilen könnten.

Der Kapitalismus erfindet nicht nur neue Technologien, Geschäftsmodelle und Märkte. Auch in seiner Königsdisziplin Management erfindet er immer wieder neue und zu eben diesen Techniken, Geschäftsmodellen und Märkten passende Methoden für die Organisation und Kontrolle der workforce.

Auch auf Seiten der Linken erfreuen sich die neuen Management-Methoden eines Zuspruchs, versprechen sie doch eine humanere Arbeitskultur, die auf Teamarbeit, Eigenverantwortung und flache Hierarchien setzt. Agile Arbeits- und Managementmethoden werden gar in einem Atemzug genannt mit Technologien und Praktiken wie Open Source, offenen Standards und Bürger-Partizipation. So sieht der Aktionsplan für die digitale Stadt Barcelona „die Einführung von nutzerfreundlichen digitalen Diensten mithilfe von agilen Methoden“ vor, die Verwaltung soll insgesamt „agiler und experimentierfreudiger“ werden. Der Agilitäts-Berater Mishkin Berteig fragt sich gar, ob diese „nicht kompetitiven, kollaborativen“ Methoden, emanzipatorisches Potenzial in sich tragen und „organisationsübergreifend als „Ersatz“ für den Kapitalismus“ dienen könnten.

Tatsächlich passiert etwas ganz anderes: Der Kapitalismus erfindet nicht nur neue Technologien, Geschäftsmodelle und Märkte. Auch in seiner Königsdisziplin Management erfindet er immer wieder neue und zu eben diesen Techniken, Geschäftsmodellen und Märkten passende Methoden für die Organisation und Kontrolle der workforce. Arbeitsorganisations- und Managementmethoden – ob diese nun „one best way“ (Taylor), human relations, lean production oder Holacracy heißen, ob sie mal auf kürzere, mal auf längere Leine, mal auf mehr Zuckerbrot oder mehr Peitsche setzten – verfolgen immer die gleichen Ziele: Velocity und Control, Geschwindigkeit und Kontrolle. Insofern stehen die agilen Methoden in einer langen Reihe an Zurichtungsmethoden, die seit Adam Smith das Hohelied der Arbeitsteilung vor nunmehr bald zwei Jahrhunderten anstimmte, das kapitalistische Arbeitsregime immer wieder in den Fokus rückt.

Das ganze Leben wird agil

Managementmethoden dringen derweil bis ins Privatleben vor und zwingen uns auch dort in Rollen, die eben aus dem Projektmanagement stammen. Längst hat das Projekt die Domäne der Arbeit verlassen – das ganze Leben wird zum Projekt und agil gemanagt. Im Zuge des „neuen Geistes des Kapitalismus“, so die zwanzig Jahre alte These der französischen Soziologen Luc Boltanski und Éve Chiapello, werden Selbstoptimierung, lebenslanges Lernen, unternehmerische Validierung der eigenen Arbeitskraft und Biografie für jeden Einzelnen zum ständigen Begleiter.

Zu Zeiten linearer Arbeits- und Lebensbiografien plätscherte das Leben nur so dahin. Von der Wiege bis zur Bahre lösten sich Kindheit, Jugend, Ausbildung, Berufsleben und Rentnerdasein harmonisch ab und bildeten den Wasserfall des Lebens. In der Software-Entwicklung ist das alte Wasserfallmodell so gut wie tot. Aber auch das Lebensmodell, das seit der Industrialisierung die (Lohn)Arbeit zum entscheidenden Faktor der Wertschöpfung, zum wichtigsten Kriterium für das Selbstwertgefühl der Menschen und zur vorrangigen Quelle für die Einnahmen des Staates gemacht hatte, verschwindet: Es wird abgelöst durch eine Management- und Arbeitskultur, die um das Projekt kreist. Aus der festen Abfolge von Kindheit, Ausbildung, Berufsleben und Lebensabend wird ein Kontinuum an Aktivitäten.

Die Unterscheidung zwischen beruflichen und privaten Aktivitäten verschwindet tendenziell. Treffen sich Freunde oder Kollegen auf ein Bier – ist das jetzt Freizeit oder Networking? Ein interessantes Gespräch, ist das schon Weiterbildung, lebenslanges Lernen? Ist meine Aktivität etwa auf Sozialen Netzwerken beruflich oder privat? Das wird zusehends schwieriger zu trennen.

Nicht nur das Berufsleben, auch das Private wird zum Projekt. Und es wird gemessen, evaluiert und bewertet, was das Zeug hält: Der Arbeitgeber zählt die Klicks und die Augenbewegungen, in der Freizeit zählen wir unsere Schritte und berechnen unseren Gesundheits-Score. Auch die viel zitiere Vermessung des Selbst wird Alltagspraxis: Wie viele Schritte bin ich heute gegangen, fragen wir uns und berechnen unsere eigene Velocity. Wie kommen wir voran mit dem großen Projekt unseres Lebens, läuft in unserem Backlog alles nach Plan? Wie sieht unsere Kompetenz aus, kommunizieren wir genug?

Agilität – Taylorismus für den kognitiven Kapitalismus

Alle müssen unternehmerisch denken und handeln, ihre Kreativität in den Dienst des Kapitals stellen, und sich dabei weitgehend selbst managen. Agilität wird zur Parole des kognitiven Kapitalismus. Die formale Freiheit wird noch weiter erhöht. Wir sollen alle zu CEOs unserer eigenen Arbeitskraft, zu Arbeitskraftunternehmern werden, Risiken eingehen. Was früher der Betrieb war, die Fabrik, der Chef, das Controlling, die Bilanzbuchhaltung – all das wird schön ins Innen verlegt.

Die Fabrik wird abgelöst durch das Projekt. Sein Fließband ist der Backlog, der niemals endende Strom an Mikro-Aufgaben, die dringend abgearbeitet werden müssen. Auch tayloristische Methoden der Vermessung, Kontrolle und Leistungssteigerung finden sich in neuer Form in der schönen neuen Welt der kleinen Teams, parzellierten Aufgaben und reger Projekt-Kommunikation. Agile Methoden sind dabei viel subtiler als die Stoppuhr von Taylor und seine Entmündigung der Vermessenen.

Agilität ist also so etwas wie der zeitgemäße Taylorismus für Kopfarbeiterinnen und Kopfarbeiter: Taylor heißt jetzt Agile. Sonst ändert sich nix.

Timo Daum arbeitet zur Zeit am dritten und letzten Teil der Buch-Trilogie zum Thema „Digitaler Kapitalismus“. Die Veröffentlichung von „Agil leben im Digitalen Kapitalismus“ ist für den Spätsommer 2020 geplant.

Leseliste 09. Februar 2020 – andere Medien, andere ThemenIllegale Raves, Hyperobjekte, Corona-Rassismus und Techno lebt

Mix der Woche: His Master’s VoiceEine Perlenkette für den Dancefloor