Von Mühsal, Meth und KommunistennazisFilmkritik: „Kind 44“

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Alle Bilder: Concorde

Ab heute in den deutschen Kinos: Daniel Espinosas Geschichtsthriller Kind 44 mit Tom Hardy, Noomi Rapace und Gary Oldman

Wer hierzulande nach der Wahrheit verlangt, der ist erledigt, raunt man sich im Moskau der Stalinzeit zu. Das muss Leo Demidow (Tom Hardy) bald am eigenen Leibe erfahren. 1945 hisst er als Rotarmist die sowjetische Fahne über dem deutschen Reichstag. Nach dem Krieg wird er zum Geheimdienstoffizier befördert und bringt pflichtgetreu allerlei Regimegegner zur Strecke. Erst als seine eigene Frau (Naomi Rapace) denunziert wird, beginnt er die sowjetische Justiz und sein eigenes Vorgehen zu hinterfragen. Zugleich wird der Sohn eines guten Freundes tot aufgefunden - ein Unfall heißt es nach stalinististischer Doktrin, obwohl alles auf einen Serientäter hindeutet. Von den Behörden (Vincent Cassel, Joel Kinnaman) verfolgt, begibt sich Leo mit dem Milizanführer Nesterow (Gary Oldman) auf die Jagd nach dem Killer.
Dass auch ein fähiger Regisseur mit hochkarätigem Cast auf ganzer Linie scheitern kann, beweist Daniel Espinosa (Easy Money) mit seinem neuen Film Kind 44. Der ist sowohl lahme Serienkillerstory als auch unfreiwillig komische Geschichtsschmonzette, verkittet mit diffusen Totalitarismusbildern im Stil einschlägiger ZDF-Mehrteiler.

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Jungspund mit neu entdecktem Gerechtigkeitssinn gegen alten Hasen.

Verschenkte Gelegenheiten

Gegen den Genremix, den Kind 44 hätte abliefern können, ist beileibe nichts einzuwenden. Eine knallharte Serienmörderjagd zwischen korrupten Funktionären und verfolgten Dissidenten hätte ein durchaus lohnenswertes Konzept abgegeben. Gleichzeitig hätte der Film spielend die Doppelmoral jener Staatssozialisten entlarvt, die da vom Proletarierglück schwadronierten, aber inmitten katastrophaler Arbeitsbedingungen und fortwährender Deportationen regierten.

Stattdessen ist Kind 44 erschreckend unausgegoren: Tom Hardy macht auf der Hälfte erstmal Pause vom Ermitteln und der Zuschauer darf eine Ehekrise im Hause Demidow miterleben, denn die schöne Raisa hat Leo aus reiner Furcht geheiratet, Furcht vor den Konsequenzen, den Antrag eines Geheimdienstoffiziers abzulehnen. Sie distanziert sich kurzzeitig von Leo, wird wenig später aber wieder passive Begleiterin, steht meist irgendwo herum und wartet, während Hardy riskante Ermittlungsarbeit leistet. Überhaupt wird keiner der angedeuteten Konflikte im Film richtig ausgetragen, weder die traurige Ehe der Demidows, noch die Missetaten des jungen Leo und sein neu entdeckter Gerechtigkeitssinn, ganz zu schweigen von dem ziemlich langweiligen Kindermörder, der einmal als hilfloser Triebtäter erkannt ganz schnell abserviert wird. Auch das Aneinandergeraten von Jungspund-Ermittler Hardy und altem Hasen Oldman verläuft im Sande, denn Gary Oldman wird schändlich wenig Screentime zugestanden.

Am Ende adoptieren die rehabilitierten Demidows zwei Kinder, deren Eltern durch Leos Agentenzögling und Widersacher (Joel Kinnaman) zu Anfang hingerichtet wurden und die Sowjets begreifen so langsam, dass es auch Mordfälle in ihrem Arbeiterparadies gibt, welch Wunder!

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Es kriselt im Hause Demidow.

Schauderhafte Sowjetunion

Wenn man Kind 44 als klassischen Antisowjetfilm sehen möchte, funktioniert er sogar gewissermaßen, denn der Film fühlt sich genauso mühselig, grau und öde an, wie das sowjetische Leben in den frühen 1950ern gewesen sein muss.
Aber selbst wenn Regisseur Espinosa einen eher tendenziösen Schinken als einen geradlinigen Thriller im Sinn hatte, so täte etwas weniger Beliebigkeit gut. Es wird quasi pausenlos denunziert und abgeholt in diesem Film, so dass sich die Frage aufdrängt, warum es so lange braucht, den Serienmörder von Rostow dingfest zu machen.
Vor allem fehlt dem Film, obwohl er mit dem Sieg der Roten Armee in Berlin beginnt, das Gespür, die Terrorregime Stalinismus und Nationalsozialismus richtig zu kontextualisieren. Kind 44 scheint nicht nur den Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über Nazideutschland zu relativieren, wenn Leos Kriegskamerad (Fares Fares) für das legendäre Foto die Rote Fahne an Tom Hardy abgeben muss, da sein eigener Arm voller gestohlener deutscher Uhren ist. Auch das Nachkriegselend der Sowjetunion, das zu einem massiven Teil durch den deutschen Angriff auf die UdSSR verschuldet wurde, wird so bezugslos dargestellt, dass es unfreiwillig komisch ist. Als Raisa, die als Lehrerin arbeitet, von der Schulleiterin ihren neuen Klassenraum gezeigt bekommt, ähnelt das Klassenzimmer eher einer Clubtoilette und die Rektorin scheint sich die triste Stalin-Ära mit intensivem Methkonsum zu versüßen, so schlecht sind ihre Haut und Zähne.

Es war damals insgesamt eine schlimme Zeit

Den Terror unter Stalin und das Scheitern des realsozialistischen Traums erfasst der Film aber ebenso wenig. Stattdessen münzt er auf fahrlässige Weise Ikonographien des Holocaustdramas zur Allzweckanklage gegen diktatorisches Unrecht um. Der Film arbeitet sich an diffusen Bildern von Denunziation, Deportation und Flucht ab, bei denen nicht mehr klar ersichtlich ist, ob es sich um Nazideutschland oder die Sowjetunion handelt. Worin Nationalsozialismus und Stalinismus einander tatsächlich ähnelten, ist dem Film wiederum zu mühselig zu benennen, er begnügt sich quasi mit den Kommunistennazis aus dem Simpsons-Universum. Auch weil der Film am Vorabend der Chruschtschowschen Entstalinisierung spielt, hätte Espinosa hier differenzierter vorgehen sollen. So bleibt Kind 44 zu ungenau für ein historisches Drama und zu ineffektiv für einen Thriller. Ähnlich wie der deutsche Mehrteiler Unsere Mütter, unsere Väter scheint es Kind 44 einerlei, um welche Art von Totalitarismus es sich hier handelt, es war damals einfach insgesamt eine schlimme Zeit.

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Despotisch, kalt und etwas grün um die Nase: Die Kommunistennazis.

Die bittere Analogie, dass wer nach der Wahrheit verlangt in Russland, ob als Oppositioneller oder Homosexueller, noch heute mitunter erledigt wird, darf man dem Film als Trostpreis zugestehen. Als Parabel über postsowjetische Zustände wirkt er aber trotzdem zu entfernt, da empfiehlt es sich eher auf Michael Apteds Gorky Park, David Cronenbergs Eastern Promises oder auch Dominik Grafs Im Angesicht des Verbrechens zurückzugreifen.
Zwischen all den Mühseligkeiten von Kind 44 schwebt die Kamera wiederholt über das nächtliche Moskau, zeigt finstere Industrie- und Wohnkomplexe. Dann bekommt der Zuschauer eine leise Ahnung, was sich aus Kind 44 hätte machen lassen. Im stalinistischen Arbeiterparadies gibt es keine Morde, wiederholen die Moskauer Behörden wie ein Mantra.
Wenn man Kind 44 betrachtet, muss man einräumen, es gibt zumindest keine guten Thriller.

Kind 44
USA, GB, CZ, RO 2015
Regie: Daniel Espinosa
Drehbuch: Richard Price
Produktion: Ridley Scott
Darsteller: Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Vincent Cassel
Kamera: Philippe Rousselot
Musik: Jon Ekstrand
Laufzeit: 137 Minuten
ab dem 4.6.2015 im Kino

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